Vergängliche Bilder

1972 – Vettor Pisani: L’Eroe da Camera

Die Ausstellung von 1972 bescherte den tiefsten Einschnitt in der documenta-Geschichte. Unter dem Stichwort „Individuelle Mythologien“ wurde, wie es schien, alles möglich. Vor allem wurde von vielen Künstlern die feste Bindung an Bilder und Objekte aufgegeben. Die Fotografie, das Video und die Aktion (Performance) hielten ihren Einzug. Das führte bei den Besuchern zu Irritationen. Nicht nur, dass sie es nicht gewohnt waren, mit diesen Medien in einer Ausstellung umzugehen, viele ahnten auch nicht, dass die Aktionen zeitlich begrenzt sahen.

So kam es, dass nach den großen Eröffnungsberichten in den Zeitungen und Zeitschriften viele Besucher nach Kassel anreisten, um James Lee Byars als lebende Skulptur auf dem Dach des Fridericianums zu sehen, Ben Vautier in seinem Denkraum zu beobachten oder einen Blick auf die Nackte von Vettor Pisani zu riskieren. Doch viele von ihnen kamen zu spät. Denn das Gros der Aktionen war auf die ersten Wochen nach der Eröffnung begrenzt. Allein Joseph Beuys harrte als Diskutant in seinem Büro 100 Tage lang aus.

Die Performance des Italieners Vettor Pisani (Jahrgang 1935) war gewiss die spektakulärste Aktion. Dabei merkten die Zuschauer nicht, dass sie automatisch Teil der Aktion wurden. Indem sie minutenlang Luciana Pisani, die Schwester des Künstlers, die angekettet und nackt vor ihnen stand, anstarrten, verstärkten sie die Folter, von der Pisani in seiner Performance erzählte.

Quer durch den Raum war ein Drahtseil gespannt. An ihm war eine Kette mit einem Hundehalsband befestigt, mit dem Pisani seine Schwester festband. Stumm, geradeaus ins Leere blickend stand sie dar, während sich Pisani an ihrem Fuß zu schaffen machte. Er färbte ihn weiß ein, richtete eine Taschenlampe auf den Fuß und stellte ein Gerät auf, mit dem der Fuß attackiert werden konnte.

Eine Bürouhr an der Wand zeigte unerbittlich den Gang der Zeit an. Sie erinnerte aber auch daran, dass die faschistischen Folterknechte mit bürokratischer Genauigkeit operierten. Pisani trug während der Aktion einen langen dunklen Ledermantel, wie ihn die Geheimdienstleute der Nationalsozialisten getragen hatten. Aber die Performance spielte nicht unbedingt auf die deutschen Gewalttaten an. Denn innerhalb der Aktion zog Pisani einen Vorhang so beiteite, dass die italienischen Nationalfarben sichtbar wurden.

Mit einer Performance wie dieser wurde das Ende der traditionellen Kunst markiert. Nicht mehr die kunstvolle Übertragung in ein anderes Medium zählte, sondern die direkte Umsetzung von Erfahrungen und Ängsten in Aktionen. Wie in einer Pantomime wurde eine Szene nachgespielt. Die nicht darauf vorbereiteten Zuschauer reagierten häufig verständnislos darauf und gingen bald weiter, wenn sie etwa sahen, wie Vito Acconi mit verbundenen Augen nach Orientierung in einem merkwürdigen Raumgefüge suchte oder Fritz Schwegler im Stil der Bänkelsänger einen Singsang vortrug.

Bei der Pisani-Aktion hielt sie der Peep-Show-Effekt fest. Möglicherweise begriffen sie mit Hilfe der Ausdauer etwas von der Botschaft Pisanis. Peter Schille urteilte in seinem für das „Zeitmagazin“ geschriebenen Bericht allerdings sehr viel nüchterner: „Die Zuschauer wanderten ab, als sie begriffen hatten“, dass die Nackte sich nicht weiter entblößen werde.“
Nach Ende der Aktion blieben einige Utensilien der Performance als stille Zeugen – der Vorhang mit den Nationalfarben und das Stahlseil mit der Halsbandkette. Diese Überreste allerdings riefen bei denjenigen, die die Aktion nicht kannten, Kopfschütteln hervor. In der Tat reichte die Kraft dieser Objekte nicht aus, um die Dimensionen der Arbeit verständlich zu machen.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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