1977 Haus-Rucker-Co: Rahmenbau
Seit 1959 gehört es zum Erscheinungsbild der documenta, dass sie mit Skulpturen in den Außenbereich geht. Anfangs war der Raum für die plastischen Arbeiten klar definiert, denn sie wurden in der zerstörten Orangerie gezeigt. Die Ruine diente als Kulisse. Dieser offene Raum war zugleich idealer Ausgangspunkt für Überlegungen, Skulpturen auch in dem davor liegenden Auepark aufzustellen..
Einen tiefen Einschnitt brachte die documenta 4 (1968), als sich nicht nur die Skulpturen von der Ruine lösten, sondern als auch Christo mit seinem 5600 Cubic Meter Package auf die Karlswiese ging und damit während der Ausstellung ein Stadtzeichen errichtete. Damit hatte Christo den Wirkungsraum der Kunst erweitert und die gewohnten Dimensionen der Skulptur hinter sich gelassen. Ein neuartiges Verhältnis zwischen Landschaft und Skulptur zeichnete sich ab. Der Schritt zur Land Art war nicht mehr groß.
Manfred Schneckenburgers viel kritisierte Mediendocumenta 1977 hatte bei allen Schwächen viele Stärken. Zu diesen zählten die plastischen Arbeiten im Außenraum. Die Skulptur diente nicht länger der Möblierung von Landschaftsabschnitten, sondern sie definierte den Stadt- und Naturraum neu: Dani Karavan, George Trakas und Walter De Maria trugen mit ihren Arbeiten entschieden dazu bei. Karavan hatte mit seiner gebauten Scheinarchitektur den Sinn für Proportionen und Perspektiven geschärft, Trakas hatte mit seinen Stegen zum Gang durch die Aue abseits der barocken Achsen eingeladen und de Maria hatte mit seinem Erdkilometer den auf das Äußere fixierten Blick auf das Innere gelenkt.
Die aus Laurids und Manfred Ortner sowie Günter Kelp bestehende Künstlergruppe Haus-Rucker-Co hatte an der Hangkante zwischen Friedrichsplatz und Karlsaue, an der man einen weiten Blick über den Barockpark sowie über den Ostteil von Kassel hat, aus Stahlgitter einen Rahmenbau hingestellt, der 31 Meter lang, 16,50 Meter breit und 14 Meter hoch ist. Dieses provisorische Bauwerk blieb dank einer Spende der Kasseler Sparkasse der Stadt erhalten.
Der Stahlbau rahmt die Landschaft. Er verführt die Passanten, aus einer vorgegebenen Perspektive die Landschaft zu betrachten. Dabei ergibt sich ein System von Blickwechseln. Denn in dem großen Rahmen, den man von weitem schon sieht, hängt an einer Stange weit vorgestreckt ein kleiner Rahmen. Um durch ihn durchsehen zu können, muss man über einen Steg in das Werk hinauflaufen, um dann von einer in der Luft schwebenden Aussichtskanzel in die Weite und zugleich durch den kleinen Rahmen zu schauen.
Natürlich denkt jeder, der im Umgang mit der Kamera geübt ist, an die Fotografie. Der Bau ähnelt einem großen Dia-Rahmen, man kann ihn aber auch als Sucher verstehen. Der kleine Rahmen wird dementsprechend als die Bildmitte, als der zentrale Ausschnitt verstanden.
Sieht man nun durch den Rahmen die davor liegende Landschaft besser? Besser wohl nicht, aber intensiver und bewusster. Allerdings ertappt man sich selbst dabei, dass der Blick immer wieder abschweift, sich der erzwungenen Perspektive zu entziehen sucht, um dann wieder im Blick durch den kleinen Rahmen die Augen zu konzentrieren, um das erhoffte Aha-Erlebnis zu finden.
Nun ist der Rahmenbau auch aus einer gewissen kritischen Ironie entwickelt worden. Haus-Rucker-Co schärft den Blick, um dann zu zeigen, dass man auf die Normalität schaut: Im Vordergrund erheben sich die Dachstatuen der barocken Orangerie und weit dahinter sieht man die Schornsteine des einstigen Industriegebietes Bettenhausen. Wir trennen gerne diese unterschiedlichen Lebensbereiche und bringen es zur Meisterschaft darin, je nach Bedarf das eine oder andere auszublenden. Hier allerdings wird die Zusammenschau unausweichlich. Der Rahmenbau erzwingt die Akzeptanz der einen Wahrheit.
Aus: Meilensteine – documenta 1-12