1977 Walter De Maria: Der vertikale Erdkilometer
Im Boden des Friedrichsplatzes ist eine zwei mal zwei Meter große Sandsteinplatte eingelassen. In deren Mitte ist Messingscheibe von fünf Zentimeter Durchmesser zu sehen. Neben der Klanginstallation von Max Neuhaus im Treppenhaus des AOK-Gebäudes von 1992 ist dies die wohl unauffälligste Arbeit, die als documenta-Beitrag in Kassel verblieben ist. Besucher, die von diesem Projekt keine Kenntnis haben, ahnen angesichts dieser wenig aussagekräftigen Platte nicht, dass sie vor einem der in ihrer Ausdehnung größten und am meisten umstrittenen documenta-Werke stehen. Denn bei der Messingscheibe handelt es sich um die Oberseite eines zusammengesteckten Stabes, der eine exakte Länge von einem Kilometer hat. Wenn man sich vorstellt, dass man knapp 15 Minuten gehen muss, um die Strecke von 1000 Metern zu überwinden, dann gewinnt man eine Ahnung davon, wie tief sich der Stab in die Erde bohrt.
Steht man vor oder auf der Platte und geht diesen und ähnlichen Überlegungen nach, fängt man an, diese nahezu unsichtbare Skulptur als eine Objekt zu begreifen und es als eine Erinnerung an die Zeit der Aufklärung zu verstehen, die Entscheidendes zum Vermessen und Verstehen der Welt beigetragen hatte. Begibt man sich auf diese gedankliche Ebene, kommt man dem sehr nahe, was der Amerikaner Walter de Maria (Jahrgang 1935) im Sinn hatte, als er für die documenta die Einbringung des Erdkilometers plante. Denn der Konzeptkünstler hatte verstanden, dass das von Landgraf Friedrich II. erbaute Museum Fridericianum nicht nur ein Haus der Aufklärung war, sondern es auch früher die historischen Instrumente barg, die zum Messen von Zeit und Raum konstruiert worden sind. Also plante er den Erdkilometer genau für die Achse, die sich damals zwischen dem Portikus des Fridericianums und dem Standbild des Landgrafen ergab. Damit wurde die documenta-Arbeit indirekt zu einem zweiten Denkmal für Friedrich II. Gleichzeitig entfaltete sie sich zu einer der aufregendsten Hervorbringungen der Konzeptkunst, denn in jedem Kopf , der die Dimensionen dieser Skulptur wahrgenommen hatte, bildete sich Erdkilometer unauslöschlich ab.
Im documenta-Jahr 1977 war allerdings wenig Raum für Gedanken dieser Art. Nein, die Katastrophe bestand darin, dass die Botschaft von dem Erdkilometer gar nicht angekommen war. Die meisten Menschen sahen nur, dass sich Monate vor dem documenta-Start der halbe Friedrichsplatz in eine lärmende Baustelle verwandelte und dass sich ein Bohrturm unansehnlich in den Himmel streckte. Es war nicht vom Erdkilometer die Rede, sondern von dem Loch, das gebohrt werden sollte. Und prompt wurde das Kasseler Projekt mit dem in München 1972 gescheiterten Vorhaben de Marias in Verbindung gebracht, wo der Amerikaner einen senkrechten Schacht durch einen Trümmerberg treiben wollte.
Aller aus Unverständnis entstandene Hass auf die moderne Kunst fand nun in dem Ärger über den Bohrturm und das Loch sein Ventil. Verstärkt wurde der Zorn dadurch, dass gleich daneben Richard Serras Terminal aus rostenden Stahlplatten aufgestellt worden war. Die Zeitungsspalten füllten sich mit empörten Leserbriefen, und etliche Kunstberichterstatter trugen zu den Missverständnissen bei. Immerhin schaffte es Peter Steinmetz, während der Ausstellung den Unmut zu kanalisieren, indem er Besucher ihre Meinung auf Bilder von dem Friedrichsplatz mit Bohrturm schreiben ließ. Diese Befragungsblätter wurden schließlich im Fridericianum wie ein documenta-Beitrag präsentiert.
Auch noch andere profitierten von der Aufregung rund um den Erdkilometer: Schüler des Friedrichsgymnasiums verkauften in kleinen Gläschen Erde aus dem Bohrloch. Immerhin konnten sie an ihrem Stand über 2000 Gläser mit Erde zu je fünf Mark für wohltätige Zwecke verkaufen, wobei jedes Mal vermerkt war, aus welcher Tiefe die Erde stammte. Langfristigen Nutzen aus der Aktion konnte auch das Naturkundemuseum ziehen, das im Treppenhaus des Ottoneums dank der Bohrung genau die Abfolge der Erdschichten unter dem Friedrichsplatz dokumentieren kann.
Aus: Meilensteine – documenta 1-12