Vom Herkules zur Fulda

1982 – Claes Oldenburg: Spitzhacke

Die Spitzhacke an der Fulda ist ein beliebter Orientierungs- und Treffpunkt. Auch wenn die wenigsten wissen, warum die überdimensionale Spitzhacke am Flussufer steht, gehört sie zu den documenta-Kunstwerken, für die die Bürger Sympathie entwickeln haben. Manche haben sie sogar ins Herz geschlossen.
Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnten hat der amerikanische Künstler Claes Oldenburg zahlreichen Plätzen und Städten zu monumentalen Denkmälern der Alltagskultur verholfen. Da steht eine gewaltige Wäscheklammer, dort liegen riesige Pool-Bälle. Im Vergleich zu manchen dieser Skulpturen erscheint die Kasseler Spitzhacke klein und bescheiden. Aber auch diese Arbeit ist aus dem Denken der Pop-Art entstanden: In einer Zeit, in der das klassische Denkmal seine Bedeutung verloren hat und in der die abstrakte Skulptur schnell zum Leerzeichen werden kann, begann Oldenburg damit, die Objekte des täglichen Umgangs ins Riesenhafte zu übersetzen. Das Kleine machte er groß, und das Feste (Waschbecken) machte er weich. Aus der Verfremdung und ironischen Überhöhung entwickelte sich der Charme dieser Skulpturen. Ganz gleich, wo man sie antrifft, stimmen sie heiter.
Claes Oldenburg war erstmals 1968 zur documenta eingeladen worden. Zusammen mit den anderen Hauptvertretern der Pop-Art – wie Lichtenstein, Warhol oder Segal – hatte er die Kunst der 60er-Jahre in den USA repräsentieren dürfen. Zu seinen Beiträgen gehörten in der documenta 4 auch die „London Knees“ – zwei Abformungen von Knien, die für damalige Verhältnisse mit großer Radikalität die realen Formen in die Kunst zurückbrachten und die heute zum Bestand der Neuen Galerie in Kassel gehören.
Nach Oldenburgs Meinung produziert die Wirklichkeit so viel Künstlichkeit, dass man ihre Entwürfe nur zu übernehmen brauche. Auf dieser Erkenntnisgrundlage schuf Oldenburg 1972 zur documenta 5 sein Maus Museum, dessen Grundriss wie der Kopf von Mickey Maus gestaltet war. In diesem Museum sah man kuriose Schaufensterauslagen – Gefundenes und Gesammeltes sowie vom Künstler Gestaltetes. Ein Warenhaus für Kitsch und Kunst, das zur Auseinandersetzung mit dem Museum ebenso ein Beitrag war wie für die Beschäftigung mit dem Kitsch.
Zehn Jahre später war Oldenburg ein drittes Mal in Kassel. Nun wollte er eine Skulptur schaffen, die dank von Sponsoren in der Stadt bleiben konnte. Schon lange vor der documenta war Oldenburg nach Kassel gekommen. Er sah die Parks und die Herkules-Anlage und stieß in der Stadt mehrfach auf Baustellen, an denen eine Spitzhacke lag oder im Boden steckte oder benutzt wurde. Damit hatte er die Grundform gefunden, nach der er seine Skulptur gestalten wollte.
Da ihn die Herkules-Figur hoch oben über der Stadt faszinierte, erfand er zu seiner Skulptur eine Geschichte: Die überdimensionale Spitzhacke habe zum Werkzeug des Kasseler Herkules gehört, und der Halbgott habe sie an das Ufer der Fulda geschleudert, wo sie sich in die Erde bohrte und von wo aus der Stiel der Spitzhacke auf Herkules zurück weist.
So erlangt die Skulptur neben ihrer ironischen Überhöhung des gewöhnlichen Werkzeugs eine Bedeutung, die in die Mythologie verweist. Sie wird zu einer Skulptur, deren Sinn sich nur an diesem Ort erfüllt.
Fast noch wichtiger aber ist ein dritter Aspekt. Da, wo die Spitzhacke am Fulda-Ufer steht, vergisst man schnell den Bezug zur Stadtgestalt. Man weiß sich zwar am Rande der barocken Karlsaue, aber die anderen Elemente geraten aus dem Blickfeld. Das gilt insbsondere für die prägende Achse, die vom Herkules über die Kaskaden, das Schloss und die Wilhelmshöher Allee bis zum Brüder Grimm-Platz führt. Am Grimm-Platz bricht die Achse ab, denn die bestimmende Innenstadt-Achse, die Königsstraße, beginnt nach einem großen Knick.
Oldenburg hat diesen wunden Punkt gesehen und wollte mit seiner Skulptur zumindest andeutungsweise die Achse Herkules-Wilhelmshöher Allee verlängern. Also ließ er die Spitzhacke an dem Punkt am Fulda-Ufer aufstellen, an dem die Verlängerung der Wilhelmshöher Allee auf den Fluss stoßen würde. Der Stiel der Achse deutet diese gedachte Verlängerung an.

Insofern ist diese documenta-Arbeit nicht nur eine heitere Übersteigerung eines alltäglichen Gegenstandes. Sie ist ein Stadtzeichen, das Verbindungen herstellt und das Strukturen der Stadt sichtbar macht, die sonst alle übersehen würden.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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