Im Dialog der Zeiten

1977 – Werner Tübke: Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III

Es war eine Sensation. Waren die ersten Ausstellungen der documenta noch als Manifest gegen die staatlich gelenkte und zwangsläufig realistisch geprägte Kunst angelegt gewesen, öffnete sich 1977 die documenta zum Osten. In einer gesonderten Abteilung innerhalb der Malerei konnten die prominentesten Maler der DDR ihre Werke vorstellen – Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke. Diese Entscheidung bedeutete eine doppelte Kehrtwendung. Mit ihr wurde die traditionelle gegenständliche Malerei zu einem Bestandteil der Ausstellung. Außerdem war nun auch jenseits der autonomen Kunst die offiziöse Kunst eines Staates zu sehen, der maßgeblich auf die Kunst Einfluss nehmen und der missliebige Künstler entweder mit Berufsverbot belegte oder ausbürgerte.

Es erhob sich auch sogleich ein Proteststurm. Die Maler Georg Baselitz und Georg Lüpertz wandten sich gegen die Zulassung der ostdeutschen Künstler und zogen ihre eigenen Arbeiten ab. Vorher her schon war offenbar auf Betreiben der DDR-Abgesandten aus der Malerei-Abteilung ein Bild von A.R. Penck entfernt worden, der damals noch in DDR lebte und dort als Künstler nicht anerkannt war. Die Diskussion um diese Osterweiterung verschärften die Auseinandersetzungen, die sowieso um die Malerei-Beiträge innerhalb der documenta 6 geführt wurden.

Trotzdem war die Grund-Entscheidung richtig und weitsichtig. Sie befreite die documenta aus einer missionarisch verstandenen Rolle und sie führte zu einer ersten ernsthaften Beschäftigung mit der Kunst, die in der DDR geduldet und gefördert wurde. Viele Besucher nahmen überhaupt zum ersten Mal wahr, dass die offizielle Kunst des ostdeutschen Staates nicht immer mit Sozialistischem Realismus gleichzusetzen war.

Der interessanteste Künstler neben dem eigenwilligen Wolfgang Mattheuer war der Leipziger Kunsthochschulprofessor Werner Tübke (1929-2004). Der souveräne Zeichner und Maler wurde spätestens 1989 durch sein Bauernkriegspanorama bekannt, das er für einen eigens errichteten Rundbau geschaffen hatte. In diesem Rundbild hatte Tübke seine Meisterschaft vorgeführt, seine faszinierende Kunst, die mühelos einen Bogen von der Malerei der Renaissance zur Bildersprache des 20. Jahrhunderts schlug.

In seinem hochformatigen Gemälde „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III“ von 1965 kündigen sich zahlreiche Elemente, die Tübke später in seinem Bauernkriegspanorama einsetzte, bereits an – die Monumentalität der Bildauffassung, die weiträumige Landschaft, die surrealen Anklänge und die auf den ersten Blick verwirrende Vielfigurigkeit.

Durch die Hintergrundlandschaft auf der rechten Seite mutet das Gemälde zuerst harmonisch. Doch allmählich merkt man, dass man sich durch die Schichten der Geschichte durcharbeiten muss und bei Bildern des Schreckens landet, die an das Regime der Nationalsozialisten erinnern. Dass die Welt aus den Fugen ist, signalisierte die zentrale und überragende Figur – der Dr. Jur. Schulze, der in eine rote Robe gewandet ist. Er ist kein Mensch mehr, sondern eine Puppe, deren Kopf schief auf dem Hals sitzt. Die gesamte Figur wird von Seilen festgehalten – als ob die Gefahr bestünde, dass sie davon fliegt oder umkippt. Oder ist dieser Mann eine Marionette, die nicht mehr von oben bewegt wird, sondern nach unten fixiert ist?

Je länger man sich auf das Gemälde einlässt, desto deutlicher wird, dass man sich in einen Irrgarten begibt. Der vordere Teil des Bildes wird nämlich von einem gewaltigen Treppenaufgang eingenommen, der dem Vorbau eines (Justiz)Palastes gleicht. Auf der sich anschließenden Terrasse verliert man jeden Überblick, weil die zahllosen Figuren als Täter und Opfer Teile eines unglaublichen Chaos sind. Tübke hat wie ein frühneuzeitlicher Maler die gewöhnliche Ordnung (auch der Farben) aufgehoben und doch eine in sich geschlossene Komposition geschaffen.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

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