Wenn Worte Bilder überdecken

1992 – Joseph Kosuth: Passagen-Werk (documenta-Flanerie)

Die documenta IX setzte auf die Fülle, auf die überbordende Kraft der Kunst. Dabei drohte die Ausstellung zuweilen auszuufern. Aber es war die bislang letzte documenta, die versuchte, alle Spielarten der Kunst vorzuführen. Begünstigt wurde das Unternehmen dadurch, dass die unterschiedlichsten Gebäude und Räume zur Verfügung standen.

Die gelungenste Präsentation erlebte die Besucher in der Neuen Galerie, die seit 1976 als Museum für die Kunst ab 1750 eingerichtet war. Während das Museumsgebäude 1972 noch in Gänze der documenta gedient hatte, erschien es 1977 und 1982 wie ein Appendix an die eigentliche Ausstellung. Für die documenta waren zwar einige Flächen leer geräumt worden, doch sie wirkten im Zusammenhang mit der Sammlung verloren.

1992 nun hatte Jan Hoet in die Neue Galerie ausschließlich solche Künstler eingeladen, die mit ihren Arbeiten die bestehende Sammlung kommentieren wollten. Das heißt: Die museale Präsentation blieb weitgehend unangetastet. Die umfangreichste und schönste Arbeit steuerte der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth (Jahrgang 1945) bei.

Kosuth setzt auf das Nebeneinander von Objekt, Bild und Begriff. So untersuchte er beispielsweise die Frage: Wie verhalten oder ergänzen sich diese drei Realitätsebenen, wenn man einen Stuhl ausstellt, daneben ein Foto dieses Stuhls hängt und auf einer weiteren Tafel den lexikalischen Artikel zum Wort Stuhl reproduziert?

Seine documenta-Arbeit plante Kosuth für die beiden Galerien-Gänge auf der Parkseite. Voraussetzung für sein Passagen-Werk war, dass alle ausgestellten Gemälde und Skulpturen an ihrem Platz blieben. Kosuth ließ den unteren Gang schwarz streichen und verhängte alle Bilder und Objekte mit schwarzen Tüchern. Auf diesen schwarzen Tüchern waren in weißer Schrift Zitate von Künstlern, Philosophen und Politikern zu lesen. Dabei war stets die Tuch- und Schriftgröße in Beziehung zur Größe des verborgenen Kunstwerkes gesetzt. In der Etage darüber waren die Wände weiß gestrichen und verhüllten weiße Tücher mit schwarzen Texten die Skulpturen, Bilder und Vitrinen.

Mit seinem Passagen-Werk bezog sich Kosuth auf ein gleichnamiges Projekt von Walter Benjamin über die Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts. Dem amerikanischen Künstler war es gelungen, das traditionelle ästhetische Erlebnis umzudrehen: Aus den Galerien mit farbigen Bildern und Objekten, wurden zwei streng inszenierte Passagen, die die Welt der Bilder auf den Schwarz-Weiß-Kontrast reduzierte und die Bilder und Objekte selbst den Blicken entzog. Dafür durfte man Texte lesen, die zu Fragen der Wahrnehmung und der Kunst hinführten.

Aber die Gemälde und Skulpturen waren nicht ausgeräumt. Neben den verhüllten Objekten blieben auch weiterhin die Beschriftungstafeln zu lesen. Das bedeutet: Durch die Tücher, unter denen sich die Umrisse der Rahmen und Skulpturen abzeichneten, erhielten die Kunstwerke eine neue, sehr starke Präsenz. Sie waren nicht zu sehen, traten aber massiv hervor. Im Zusammenspiel mit den Beschriftungsschildern verwandelten sie sich in Gedankenbilder. Dabei ergab sich für die Kenner der Neuen Galerie der Effekt, dass sie im Blick auf das Verborgene die inneren Bilder vor sich sahen.

Kosuths Verhüllungsaktion wurde zuweilen als eine Absage an die überlieferte Kunst, als eine Auslöschung verstanden. Auch der Kasseler Künstler Eberhard Fiebig sah das so und entfernte unter Protest seine ebenfalls verhüllte Stahlskulptur aus der Galerie. Wenn man sich allerdings auf Kosuths Arbeit intensiver einließ, dann konnte man gar nicht an einen Abgesang denken. Im Gegenteil: Je länger die Kunstwerke den Blicken entzogen waren, sich aber deutlich in Szene setzten, desto präsenter und notwendiger wurden sie.

Deshalb gehört das Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung zum Wesen von Kosuths Arbeit. Als man sich entschied, die Arbeit (beziehungsweise die Idee dazu) für die Neue Galerie zu erwerben, schuf Kosuth eine konzentrierte Fassung, in der die schwarze und die weiße Passage zu einem grauen Raum verschmelzen. Dieser graue Raum wird gelegentlich aktiviert. Dann werden die dort hängenden Bilder aus dem 18. Jahrhundert mit grauen Tüchern verhüllt und für einige Wochen in Gedankenbilder umgeformt.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

Schreibe einen Kommentar