Die ganze Welt als Panorama

Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt eine Video-Installation von Chantal Akerman, die zu den Schlüsselfiguren von
documenta-Leiterin Catherme David gehört.

Im Kino läuft die Filmkomödie „Eine Couch in New York“, die heiter und hintergründig in die Welt der Psychoanalyse hineinleuchtet und dabei eine konventionelle Liebesgeschichte entwickelt. Der Name der Drehbuchschreiberin und Regisseurin elektrisiert alle, die sich für die kommende documenta interessieren. Denn die französische documenta-Leiterin Catherme David benutzte den Film „D‘Est“ der Belgierin Chantal Akerman als Visitenkarte, als sie sich vor genau zwei Jahren erstmals der Kasseler Offentlichkeit vorstellte.

Nun haben beide Filme Akermans wenig miteinander gemein – die Komödie erzählt ein verdrehtes Märchen, während „D‘Est“ (Von Osten) ein nahezu dokumentarisches Werk ist. Gleichwohl gibt es ein verbindendes Element, nämlich die enorme Kraft der Bilder. „Eine Couch in New York“ besticht durch die ruhige Kameraführung und die dadurch entstehenden Panoramen, die auch die Details wichtig werden lassen. Aus der gleichen Quelle bezieht der Film „D‘Est“ seine Faszination, der eine Reise von Ostdeutschland nach Moskau kurz nach dem Zusammenbruch der Blöcke und Grenzen schildert.

Der Film orientiert sich nicht an Sehenswürdigkeiten. Er registriert und dokumentiert. Mal ist die Kamera fest eingestellt auf eine weitläufige. Landschaft; dann kann es passieren, daß allein die gelegentlich vorbeirasenden Autos die Ruhe unterbrechen. Dann wieder fährt die Kamera langsam an gehenden oder wartenden Menschen vorbei und fängt deren Gesichter ein. Oder die Betrachter dringen mit Hilfe der Kamera in enge Wohnungen ein und beobachten alltägliche Lebensabläufe. Die Welt wird in diesem Film zu einem unendlichen Panorama, das an den Zuschauern vorbeizieht, wobei die Wirkung der Bilder durch die Motorengeräusche und Stimmen verstärkt wird.

Wer den Film „D‘Est“ gesehen hat, wird das Gefühl nicht los, die Sprache des Kinos neu entdeckt zu haben. Doch ist der Film nicht für das Kino gedreht worden, sondern für eine multimediale Installation, die in mehreren Museen gezeigt wurde. Chantal Akermans Installation „D‘Est“ gehörte dem letzten Projekt, das
Catherin David für die Pariser Galerie Jeu de Paume realisierte. Jetzt ist die Arbeit in Wolfsburg zu sehen.

Überraschend ist, wie gut Umsetzung des Films in eine Video-Installation funktioniert Die Besucher betreten einen kleinen Kinoraum, in dem sie auf einer Großbildwand den ganzen, 107 Minuten langen Film ansehen können. In einem weiteren Raum stehen auf acht gestaffelten Blöcken je drei Monitore, die im steten Wechsel je drei Minuten-Sequenzen aus dem Film zeigen. Da taucht man ein in die Fülle der Bilder, erlebt die Gleichzeitigkeit der Abläufe und die Dichte der Urbanität. In einem dritten Raum läuft ein Video, in dem Chantal Akerman über ihr Projekt spricht.

Diese Bilder sind mehr als Kino, weil sie nicht in der Literatur Anleihe nehmen, sondern aus eigener Kraft schöpfen. Im Kunstmuseum Wolfsburg gibt es dabei eine schöne Entsprechung: Seit wenigen Tagen ist dort auch eine Video-Installation zu sehen, die Peter Fischli und David Weiss geschaffen haben und die bei der vorigen Biennale in Venedig für Begeisterung sorgte. Auf zwölf Monitoren laufen um das Detail bemühte Filme, die unterschiedlichste Alltagsszenen einfangen. Während Chantal Akerman mit melancholisch offenem Blick die Welt an sich vorüberziehen läßt, machen Fischli und Weiss den Kosmos Schweiz auf heitere Weise greifbar: Die Wirklichkeit als Collage

HNA 12. 9. 1996

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