Schreiben als Lebensvollzug

Die Konzept-Künstlerin Hanne Darboven starb im Alter von 67 Jahren – Viermal an der documenta beteiligt

Zur Documenta 11 (2002) gab es im Museum Fridericianum in Kassel ein gelungenes Zusammentreffen: Während in einer Kabine wechselnd Sprecher die Jahreszahlen-Kolonnen aus On Kawaras „One Million Years“ vortrugen, konnten die Zuhörer ihre Blicke auf die tausenden Zeichnungen von Hanne Darboven schweifen lassen, die auf den Wänden der drei Etagen der Rotunde wie eine gewaltige Wandskulptur installiert waren. Die Werke beider Künstler waren nicht leicht zugänglich. Gleichwohl waren sie sehr lebensnah und verwandt. Während On Kawara in „One Million Years“ die Dimensionen menschlicher Zeit sichtbar machen wollte, legten Hanne Darbovens Arbeiten Zeugnis ab vom Lebensvollzug. In Abwandlung des Zitates „Ich denke, also bin ich“ (René Descartes) konnte Hanne Darboven sagen: „Ich schreibe, also bin ich.“ Durch das Schreiben versicherte sie sich ihrer Existenz. Jetzt starb sie im Alter von 67 Jahren.

Die Konzept-Künstlerin, die wesentliche Impulse für ihre Arbeit von den Minimal- und Konzeptkünstlern in New York erhalten hatte, war vielseitig interessiert und begabt. Wenn sie auf der Grundlage von Kalendern und Daten Quersummen und daraus eigene logische Rechensysteme entwickelte und diese niederschrieb, dann verwandelten sich zuweilen die Zahlenreihen in Notationen. Schließlich hatte sie auch zur Musik eine große Nähe.

Die aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie (Darboven-Kaffee) stammende Künstlerin brauchte sich keine Geldsorgen zu machen. Sie fand aber sehr schnell Zugang zur internationalen Szene und war bereits 1972 zur documenta 5 als Konzept-Künstlerin eingeladen worden. Seitdem war sie weltweit gefragt. Viermal nahm sie an der documenta teil, 1982 und 2002 mit wandfüllenden Bildfolgen in der Rotunde des Fridericianums. Nur in dieser überbordenden Fülle war klar zu machen, dass dies nur Ausschnitte aus einem endlos scheinenden Werk waren.

Mit ihrem Projekt „Schreibzeit“ änderte sich im Jahre 1974 grundsätzlich ihr Arbeitsstil. Hanne Darboven, aufgeschreckt durch die politischen Ereignisse, begann damit, sich selbst Rechenschaft ihrer Position und Haltung zu geben und die Zeit sowie die Kulturgeschichte aufzuarbeiten. Sie eignete sich Texte von Leibniz, Lichtenberg, Heine, Bismarck, Lincoln, Rilke und vielen anderen an, schrieb sie nieder und konfrontierte die Texte durch Bilder und Dokumente, die sie in Zeitschriften und Büchern fand. Ähnlich wie der Schriftsteller Walter Kempowski wurde sie zur unbändigen Sammlerin zeit- und kulturgeschichtlicher Dokumente. Die von ihr begründete Hanne Darboven- Stiftung hat ein riesiges Archiv zu hüten.

HNA 14. 3. 2009

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