Dem japanischen FluxusKünstler AY-O hat der Kasseler Kunstverein eine Ausstellung gewidmet. Im Kunstraum trifft man den Alltag wieder.
Sie sind seit über 30 Jahren eine große internationale Familie. Sie treffen sich in Wiesbaden, Paris und vor allem in New York, sie reisen mit kleinem Gepäck, weil sie oft erst da, wo sie agieren, ihre Utensilien finden, und sie haben einen hintergründigen Sinn für die Umkehrung der Dinge. Das klassische Kunstwerk ist nicht ihre Sache. Sie lieben die Aktion und den Umgang mit dem Alltäglichen.
Die Künstler, die Anfang der 60er Jahre gemeinsam aufbrachen, sind wohl alle älter geworden, doch die von ihnen getragene Fluxus-Bewegung hat an Kraft und Einfallsreichtum nichts eingebüßt. Den besten Beweis dafür liefert der vornehmlich in New York lebende Japaner AY-O, der zu den Vätern der Fluxus-Kunst gehört. Er schuf für den großen Saal im Kunstverein und damit für Kassel ein riesiges Hängebild: 11 mal 21 Gegenstände hängen, streng in Reih und Glied geordnet, von der Decke – von der Popcorntüte über die Klobürste und die Schallplatte bis zur Puppe und roten Wurst. AY-O hat, wie er es liebt zu sagen, diese Gegenstände nicht gesucht; sie sind zu ihm gekommen – in Wohnungen Kasseler Freunde und beim Einkaufsbummel in der Stadt. Und nun baumeln die Dinge, mit denen wir leben, über unseren Köpfen – nicht bedrohlich, eher fröhlich, aber doch bezeichnend.
Das riesige Hängebild wird zum heiteren Spiegel. Some hanging pieces, einige Hänge-Stücke, nennt AY-O seine Ausstellung im Kasseler Kunstverein. Zielsicher führt er vor, wer wir sind. Im anderen Raum hängen Leinen voller Unterwäsche, von des Künstlers Vater, seiner Mutter, Frau und Tochter sowie ihm selbst. Diese unterschiedlichen Kleidungsstücke führen ganz nebenbei die Verwestlichung der japanischen Kultur vor. Eine andere Wäscheleine, die AY-O im Kunstverein spannen ließ, ist mit Stücken behängt, die nach dem Gesetz des Regensbogens eingefärbt sind. Diese Leine hing zuerst zwischen den Türmen des World Trade Centers (Höhe: 60. Stock) in New York und zog damit die edlen Bürotürme auf die schlichte Ebene des Alltagslebens: Große Wäsche im Verwaltungsviertel.
Der Fluxus-Künstler AY-O findet immer wieder witzige und tiefsinnige Wege, um das, was kaum noch wahrgenommen wird, uns so erneut vorzusetzen, daß wir stutzen. Die Skala der Regenbogenfarben ist zu seinem Leitmotiv geworden, wie ein unter der Decke hängendes Gerippe beweist. Aber erst bei einer älteren Arbeit wie den Fingerboxen, in die man (verstohlen) reingreifen soll, wird man darin erinnert, wie provokativ die Fluxus-Bewegung begann. Der Vorrat an Provokation hat sich aber verbraucht.
HNA 9. 9. 1994