Der Sturzflug in die Farben

Kein anderer deutscher Maler hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Gemüter so bewegt wie der 1938 in Deutschbaselitz (Sachsen) geborene Georg Baselitz: Er irritiert die Betrachter seiner Bilder dadurch, daß er die Dinge, die er zum Anlaß seiner Malerei nimmt, auf dem Kopf stehend zeigt. Es ist jedoch keineswegs so, daß Baselitz in die Irre führen will, auch will er nicht provozieren. Mit der Umdrehung der Motive will Baselitz vielmehr verdeutlichen, daß es ihm gar nicht um die Darstellung geht, sondern allein um die Malerei.

Worum geht es bei der Malerei? Die Frage stellt sich heute jedesmal, wenn ein Bild entsteht. In früheren Jahrhunderten war das kein Thema, weil der Kunst eindeutige Abbildungs- und Darstellungsfunktionen zugewiesen worden waren. Seit die Fotografie und die anderen optischen Medien diese Aufgabe übernommen haben, ist die Kunst aus ihrer traditionellen Pflicht entlassen. Jetzt zählt nur noch die Kür.

Georg Baselitz ist einer der Künstler, die am radikalsten auf die im 20. Jahrhundert entstandene Situation reagieren. Einerseits hält er an der herkömmlichen Bildsprache fest und klammert sich an die Herausarbeitung eines ganz gewöhnlichen Motivs, um in der Farbfläche Form und Schatten plastisch sichtbar werden zu lassen. Auf der anderen Seite wehrt er sich mit Händen und Füßen dagegen, seine Kunstfertigkeit vorzuführen: Da es ja nicht um die Kunst der Darstellung gehe, sondern um die Kunst der Malerei, stellt er alles auf den Kopf und versucht, so roh wie möglich zu malen.

Auch das reicht ihm nicht. Um nicht einen Stil und eine Handschrift zu entwickeln, legt er den Pinsel beiseite und schmiert die Farben mit den Fingern auf die Leinwand. Alles dies macht er, um zu beweisen, daß es eben nur darum geht – um die Farben auf dem Maigrund. Für den Betrachter der Bilder ist dies alles nur ein Akt der Verzweiflung: Dem strengen Gesetz der Malerei entrinnt auch Baselitz nicht. Ob er nun die Farben mit den Fingern verstreicht oder mit dem Pinsel, ob er die Welt auf den Kopf stellt oder aus gewohnter Perspektive betrachtet oder ob er die Malerei holzschnittartig betreibt oder in gepflegter Weise – der Künstler entkommt seinem Schicksal nicht und bildet Handschrift und Stil aus. Das kopfstehende Motiv zudem ist sein Markenzeichen geworden. Auch weist diese Art der Malerei unmittelbar in die kraftvoll-rohe Bildhauerei, die Baselitz seit 1980 betreibt.

Anfang der 70er Jahre hat Baselitz eine Serie von Adler-Bildern geschaffen. Im Falle des fliegenden Vogels wirkt die Motiv-Umkehrung nicht so radikal, weil die Darstellung erst einmal an einen unfreiwilligen Sturzflug erinnert. Aber nicht Scheitern und Absturz sind die Themen, sondern Form, Masse, Bewegung und Farben. Der Sturzflug, an dem wir uns so gerne festhalten, führt in das Farbenmeer hinein. Wahrscheinlich wird sich der Widerspruch kaum auflösen lassen: Die Betrachter können von dem Motiv und dessen Umkehrung kaum absehen. Für den Maler aber sind diese Elemente nur Hilfsmittel, um zu dem vorzudringen, was ihn eigentlich beschäftigt – die Gestaltung einer malerischen Fläche.

HNA 5. 2. 1995

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