Joseph Beuys und die Freie Internationale Hochschule in der documenta 6
Vormittags um halb elf im Erdgeschoß des Museums Fridericianum. Die ersten Besuchergruppen nehmen, die Ausstellungsräume in Beschlag. Den Eingang zum Raum der Freien Internationalen Hochschule versperren zwei große Tafeln, auf denen noch das Vortrags- und Diskussionsprogramm des Vortages abzulesen ist: Drinnen wird aufgeräumt. Auf dem Tisch ergänzt eine Mitarbeiterin das Informationsmaterial, ein anderer überprüft Mikrofon und Lautsprecheranlage. Durch das
Plastikschlauchsystem, das entlang der Wände durch den Raum gezogen ist, wird lautlos der Honig gepumpt, nur hin und wieder ist ein Gluckern hörbar, wenn sich in den an einer Stelle aufgerollten Schlauchwindungen soviel Honig angesammelt hat, daß die hochgepreßte Menge in einem Schwall weiterfließt. In einer Ecke fegt, unverkennbar in blaßgrüner Fliegerweste und mit Hut, Joseph Beuys den Boden.
Eine Stunde später ist dieser Raum prall gefüllt. Alle Stühle sind besetzt, an den Wänden drängen sich beharrliche Zuhörer und kurzatmige Neugierige, die nach einem schnellen Blick auf die Diskussionsrunde sich wieder auf Kunstbesichtigung einstellen. Konferenzsprache ist im Moment Englisch; übersetzt wird zwischendurch. Es geht wieder einmal um den Kreativitätsbegriff – schöpferisches Tun nicht nur bezogen auf die Kunst, sondern auch auf gesellschaftliches Handeln. Beuys, der zu den Vätern der Lehre von der neuen Kreativität gehört, sitzt, fast an den Rand gedrückt, unter den Zuhörern. Er hört oft nur zu und greift ins Gespräch ein, wenn ein Begriff fehlt oder er direkt angesprochen wird.
Die documenta 6 dauert 100 Tage. Die Freie Internationale Hochschule wird über die volle Distanz dieser 100 Tage betrieben. Und Joseph Beuys sowie eine Handvoll Mitarbeiter aus Deutschland, Irland und Südafrika sind die ganze Zeit über dabei. Gesprochen und diskutiert wurde und wird über Atomenergie, Stadt/Kommune, Medien/Manipulation, Menschenrechte, Gastarbeiter, Nordirland, Gewalt/soziales Verhalten und Arbeitslosigkeit.
Beuys ist nun schon zum zweiten Male während der ganzen 100 Tage auf der documenta. Für ihn ist das, was er auf der documenta 6 mitmacht, eine logische Fortentwicklung seiner Aktivität von 1972 und seiner sonstigen Arbeiten. Für den außen stehenden Betrachter aber ist die Szenerie total verändert und das nicht nur, weil an die Stelle des Büros für direkte Demokratie durch Volksabstimmung die Freie Internationale Hochschule getreten ist, Beuys war auf der documenta 5 ein Einzelkämpfer, der immer wieder Besucher ins Gespräch lockte, zur Diskussion herausforderte aber selbst stets Mittelpunkt blieb, auch wenn er es nicht wollte.
Dies ist jetzt Geschichte. Die Ideen haben gewirkt: Jeder ist Professor und Student zugleich. Es geht darum, die Gleichgewichtigkeit herzustellen. Das fordert nicht nur Joseph Beuys, sondern das wird auch praktiziert. Ich muß mich zurückhalten, sagt er, damit nicht der Eindruck entsteht, daß das eine Beuys-Idee ist. Das ist doch inzwischen eine politische Bewegung.
Natürlich ist dies in vielem doch eine Beuys-Idee. Die Freie Internationale Hochschule etwa wäre auf der documenta ohne den Bezug zum Künstler Beuys schwer denkbar. Schließlich ist ja auch die Honigpumpe nicht nur ein metaphorisches Zeichen für den lebendigen, energiespendenden Kreislauf, auf den der neue Kreativitätsbegriff abzielt, sondern auch ein sichtbares und motorisches Element, das die statische Ausstellung mit den Aktivitäten der Hochschule verbindet. Die Wechselwirkung der Bezüge ist groß. Und so wird, wer nach Bedeutungsinhalten der Honigpumpe am Arbeitsplatz fragt, spätestens im Raum der Freien Internationalen Hochschule eine Antwort finden.
Dennoch läßt sich davon sprechen, daß die Ideen von der Systemüberwindung aus dem Kreativitätsbegriff heraus eine politische Bewegung hervorgerufen haben. Als Beweis dafür kann man nehmen, daß die Freie Internationale Hochschule nach der documenta weitere Filialen in Londonderry (Nordirland), Kapstadt (Südafrika) und Jerusalem (Israel) gründen wird. Doch diese Ausweitung birgt auch Probleme. Beuys: Wir brauchen vielerorts volle Arbeitskräfte und müssen uns neue Wege der Finanzierung suchen. So müsse man daran denken, einen eigenen Unternehmensverband zu gründen, in dem die Produktion von. Erkenntnisgütern durch die Produktion von Naturgütern finanziert werde. Ein solcher Unternehmensverband könne auch die Vorstellung von einer zukünftigen gesellschaftlichen Produktion anschaulich machen.
Mit Genugtuung registriert Beuys, daß das Publikum interessiert und besonnen auf das Hochschul-Projekt reagiert In den letzten fünf Jahren hat sich viel getan. Die Menschen sind beeindruckt, welche internationale Vielfältigkeit diese Sache hat. Und gleich schließt er an: Wie ich überhaupt diese documenta für die beste halte, was die Verfassung des Publikum anbetrifft.
Die documenta 6 bringt aber auch für Beuys und die anderen Mitarbeiter der Freien Hochschule einen Berg Prob1enre. Denn eigentlich müßten die vielen Aufzeichnungen von den Diskussionen nun ausgewertet und aufgearbeitet werden. Noch ist nicht .klar, wie das bewältigt werden kann. Ebenso ungewiß ist das Schicksal der Honigpumpe, die für die Dimensionen des Fridericianums konstruiert wurde. Zwar gibt es vier Interessenten, die diese Skulptur übernehmen wollen, doch ist die Entscheidung noch offen, zumal Beuys selbst nicht sicher ist, ob die Honigpumpe in einem anderen Museum als stilles Dokument installiert oder als funktionierendes Kreislaufsystem erhalten werden soll. Er tendiere, so Beuys mehr zum Dokument.
HNA 17. 9. 1977