Lernen, mit ungelösten Rätseln zu leben

Schwierigkeiten mit der zeitgenössischen Kunst

Joseph Beuys gilt zur Zeit als die Nr. 1 im avantgardistischen Kunstbetrieb. Nachdem bald drei Jahrzehnte lang die wesentlichen Impulse für den internationalen Kunstmarkt aus den amerikanischen Ateliers und Galerien gekommen waren, steht nun die US-Fachwelt für einige Wochen im Banne des Rheinländers Beuys. Seine große Werkübersicht im New Yorker Guggenheim-Museum bedeutet ein Maß an internationaler Anerkennung, das seit Max Ernst kein deutscher Künstler erreicht hat.

Doch genau dieser Erfolg, den da ein Deutscher erreicht hat, vermehrt die Aggressionen bei vielen seiner Landsleute gegen Beuys und sein Werk: Nicht genug, daß die Beuysschen Arbeiten, die man sogar mit Begriffen wie „Afterkunst“ oder „Mülltonnenkunst“ belegt, als große Kunstwerke gehandelt werden, nein, nun werden sie auch noch als die Offenbarung deutscher Kultur gefeiert und dann erweisen diesem Künstler bei seiner Rückkehr aus Amerika noch Prominente wie Altbundespräsident Scheel die Ehre. Scheels Begrüßungshand für Beuys wird von dieser Ablehnungsfront als eine gegen sie selbst gerichtete Ohrfeige empfunden.

Nun werden ja auch Kunstsachverständige bekennen, daß sie es mitunter nicht ganz leicht haben mit dem Zugang zu einzelnen Werken von Beuys, daß es da Einstiegsprobleme und Hindernisse gibt. Warum auch nicht? „Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel, wäre ich nicht hier“, sagte Wieland Schmied, Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, anläßlich der Kaiserring-Verleihung in Goslar. Wo ein Werk sich gleich dem ersten zugreifenden
Blick erschöpfend mitteilt, kann es mit der Kunst nicht so weit her sein.

Aber viele Zeitgenossen haben noch nicht gelernt, mit Rätseln, mit der Offenheit zu leben. Es geht hier nicht nur um Beuys und seine Aktionen oder Skulpturen. Es geht hier um jene zeitgenössische Kunst insgesamt, die sich außerhalb der erwarteten Grenzen bewegt und die mit sehr alltäglichen Dingen arbeitet.
Niemand wird gezwungen, mit dieser Kunst zu leben. Doch gerade weil die Kunst ein freies Angebot zur Auseinandersetzung ist, erstaunen und erschrecken die Aggressivität und Intoleranz, mit der viele Menschen ihr begegnen. Das eigene Unvermögen, mit einem als Kunst eingestuften Werk etwas anfangen zu können, wird oftmals nicht eingestanden, sondern als ein Unvermögen des Künstlers ausgelegt. Statt Lernbereitschaft wird blinde Ablehnung provoziert.

Wie aber kommt es dazu?

Ein sicherlich entscheidender Fehler ist die grundsätzliche Unterschätzung von Kunst. Gemälde beispielsweise werden vielfach so behandelt, als könne man sie im Vorübergehen zur Kenntnis nehmen. Aber so kann man weder einem Dürer noch einem Spitzweg auf die Spur kommen. Kunstbetrachtung kann zwar Freude machen, bedeutet aber vor allem Arbeit und Anstrengung, die man auf sich nehmen muß. Natürlich kann man sich einfach von Rembrandts „Nachtwache“ überwältigen lassen, doch um es in seiner Malweise und inhaltlichen Gestaltung zu verstehen und richtig einzuschätzen, muß man mehr mitbringen als Begeisterungsfähigkeit.

Das Vertrackte ist nun, daß die avantgardistische Kunst, die oftmals einfacher, ja, simpler und ärmer als die Werke klassischer Meister erscheint, vom Betrachter ein höheres Maß an Mitarbeit, an Anstrengung und Phantasie erfordert. Dazu konnte es kommen, weil die bildende Kunst aus wesentlichen Aufgaben entlassen wurde: Da die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben nicht mehr auf eine kleine Schicht beschränkt ist, braucht die Kunst nicht mehr Funktionen der Literatur zu erfüllen; und da die Fotografie zu einem hoch entwickelten Volkssport geworden ist, sind Zeichenkunst und Malerei aus der Pflicht entlassen, Menschen und Landschaften zu porträtieren.

Natürlich bedeutet die Befreiung der Kunst aus diesen historischen Zwängen nicht, daß nun jede illustrative oder porträtierende Darstellung überholt und aus der aktuellen Kunst verbannt wäre. Gerade die jüngste Szene belegt, daß es in diesem Bereich sehr vitale und ideenreiche Künstler gibt. Doch die Befreiung hat zur Folge, daß sich die Kunst auch auf ganz neue Gebiete begeben konnte, daß die überlieferten Grenzen der Kunst gesprengt werden konnten. Die Abstraktion und völlig freie Malerei wurden ebenso möglich wie die Einbeziehung aller denkbaren Materialien in die Kunstproduktion.

Nun ist dies keine neue Erkenntnis. Streng genommen müßte sie seit einem halben Jahrhundert Allgemeingut sein. Die dunkle Zeit des „Dritten Reiches“ trug aber dazu bei, die Ausbreitung dieser Einsicht zu verhindern und die Diffamierung der neuen Kunst als staatspolitisch richtig erscheinen zu lassen. Der Bannfluch „entartete Kunst“ ist zwar längst aufgehoben, wirkt aber noch nach.

Zu diesen Ausgangsschwierigkeiten tritt noch das Problem hinzu, daß es heute an verbindlichen Maßstäben zur Beurteilung von und zum Umgang mit Kunst mangelt. Seit Marcel Duchamp vor 65 Jahren einen serienmäßig hergestellten Flaschentrockner zum Kunstwerk erklärte, sollte man in der Diskussion davon ausgehen, daß Kunst eine Frage der Setzung ist. Ikonen oder mittelalterliche Altarbilder sind nicht als Kunstwerke entstanden, sondern als Illustrationen von Glaubensinhalten. Erst unsere säkularisierte Welt löste die Bilder aus dem religiösen Zusammenhang und erhob bzw. erniedrigte sie zu reinen Kunstwerken.

Auch am Schicksal der Jugendstilarbeiten ist ablesbar, wie sehr es eine Frage gesellschaftlicher Übereinkunft ist, ob etwas als Kunst beurteilt wird oder nicht: Der
Jugendstil, der sich selbst als kunstschöpfende Richtung verstand, stand lange Zeit im Ruf, Kitsch zu sein, ehe er im vorigen Jahrzehnt als Kunst wiederentdeckt wurde.

Die Bereitschaft, etwas als Kunst anzusehen ist also genauso wichtig wie die Konzentration auf das einzelne Werk. Ebenso notwendig ist aber auch, daß die Offenheit der Kunst auf eine Offenheit der Kunstbetrachtung trifft, denn mit der ausschließlichen Frage „Was soll das bedeuten?“ findet man am allerwenigsten Zugang zu Bildern oder Skulpturen. Plastiken, Gemälde, Zeichnungen und Grafiken werden ja nicht in erster Linie deshalb hergestellt, weil sie Geschichten oder Philosophien ausbreiten wollen. Werke der bildenden Kunst sind doch fürs Auge geschaffen. Sie wollen betrachtet, entdeckt und visuell erfaßt werden. Erst dann kann es darum gehen, mit Worten die Bedeutungszusammenhänge zu erörtern.

„Besser sehen durch documenta“ hieß das Motto der großen Kasseler Kunstausstellung vor sieben Jahren. Die Kunst als Sehschule, ein gar nicht so abwegiger Gedanke. Man denke etwa an Christo und seine Verpackungen: Wer einmal gesehen hat, wie unter einer solchen Verpackung ein Gebäude zur reinen kubischen Form geworden ist, wer registriert hat, wie Plastikplanen zu einer neuen Außenhaut geworden sind, der empfindet die Gebäudeverhängungen bei Bauarbeiten als Spielarten von Christos Arbeit.

Oder nehmen wir Beuys: Nur wenige Künstler wie er haben das Empfinden für alltägliche Materialien als Bedeutungsträger geschärft. In seinen Skulpturen sind die Materialien selbst Bedeutungsträger und nicht erst ihre Ausformungen. Die Honigpumpe auf der vorigen documenta war also nicht nur eine spröde Apparatur, sondern Sinnbild eines befruchtenden lebensstärkenden Kreislaufs, eines pulsierenden gesellschaftlichen Lebens.

Wie die Abstraktion und freie Malerei die Erlebnisfähigkeit von Farbe und Fläche gesteigert haben, wie die land-art-Künstler den Sinn für vorgegebene Zeichen und Zeichnungen in der Landschaft schärfen, so haben Gestalter wie Beuys das Bewußtsein der Überflußgesellschaft auf uralte Bedeutungsinhalte gelenkt. Natürlich erschöpfen sich Beuys‘ Arbeiten darin nicht. Aber dies ist ein Aspekt, der über das eigentliche künstlerische Werk hinausweist.

RP 24. 11. 1974

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