Aus Kunst wird Leben

Immer wieder träumten ganze Künstlergenerationen davon, nicht nur für sich und für ihresgleichen sowie das zahlungskräftige Bürgertum schöpferisch tätig sein zu können, sondern etwas zu machen, was ins Leben hineinwirkt, das Leben verändert oder gar Teil des Lebens wird. Die meisten von ihnen, wie die Jugendstil- Künstler, formten wohl eine Alltagswelt nach ihrem Bilde, doch sie schufen nur neue Kunstwelten, die den wirklichen Alltag nicht erreichten, geschweige denn veränderten.

Ausgerechnet Joseph Beuys, der aus dem traditionellen Kunstverständnis am wenigsten zu begreifen war, weil er auf die Sprachgewalt der einfachen Stoffe und die Bewegungskraft der Mythen vertraute, ausgerechnet dieser Mann vermochte es, aus Kunst Leben werden zu lassen: Seine Baumpflanz-Aktion „7 000 Eichen“ verändert auf Dauer die documenta-Stadt Kassel. Indem sie graue und unbepflanzte Zonen begrünt, pflanzt sie die Idee von lebenserneuernden Kunst in den Bezirken fort, die nicht nur den Bäumen, sondern auch der Kunst entfremdet waren.

Andere Mammutprojekte der Kunst, wie Christos Verpackungs-Aktionen, waren immer auf Zeit angelegt. In diesem Werk für Kassel, das jedem gepflanzten Baum eine Basaltsäule zugesellt, regiert der Geist der Dauer. Die nächsten Generationen können noch davon profitieren. Jedes Baum-Stein-Paar wird dabei zu einem Monument des Lebens und zu einem Zeichen der Kunst.

Es ist, als hätte der überraschende Tod von Joseph Beuys am 24. Januar der Baumpflanz-Aktion noch einmal einen kräftigen Schub gegeben: Innerhalb

der Frühjahrs-Pflanzaktion wurden je 800 Bäume und Basaltsäulen in die Erde gebracht, so daß von den geplanten 7 000 Bäumen bereits 6 100 gesetzt sind. Jetzt, da zahlreiche Verkehrsachsen der Stadt bepflanzt sind und die Aktion sich ihrem Ende zuneigt, wird erst richtig sichtbar, was Beuys mit diesem Unternehmen bezweckte: Kunst verhilft dem Leben in der Stadt zu einer neuen Qualität. So wirkt der aus Kleve stammende Künstler weit über die eigene Existenz hinaus. Er, der es stets auch verstand, die Gesetze des Kunstmarktes zur Beförderung der eigenen Ideen auszunutzen, hat aber gerade mit diesem seinem größten Projekt ein Werk geschaffen, das nicht zu vermarkten ist.

Das Beuyssche Werk ist ohne die in ihm ruhenden Widersprüche nicht zu verstehen: Auf der einen Seite verkaufte der Künstler über Galerien seine Zeichnungen, Plastiken und Installationen zu den marktgängigen, also (da er sehr gefragt war) hohen Preisen, auf der anderen Seite legte er äußerste großen Wert darauf, seine Ideen möglichst weit zu verbreiten, so daß er Postkarten und Kleinobjekte in Massenauflagen herausgeben ließ. Alles konnte ihm zur Botschaft werden, wenn er nur damit die Menschen erreichen, ihr Fühlen, Sehen und Denken bewegen konnte.

„Wäre Beuys mir nicht ein Rätsel, wäre ich nicht hier,“ sagte 1979 Wieland Schmied, Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, als er in der Goslarer Kaiserpfalz den neuen Kaiserring-Träger Joseph Beuys würdigte. Schmied hat damit den Kern der Beuysschen Faszination getroffen: Weil dieser Künstler sich selbst immer ganz in sein Werk einbrachte und dabei Kräfte aktivierte, die aus vielen unterschiedlichen Quellen gespeist wurden, schuf er etwas, was sich ständig wandelte und nie vollständig erklärbar wurde. Er spürte vergessene Wurzeln auf, legte schlecht verheilte Wunden frei und weckte die Kräfte des Lebens. Aus Fühlen wurde Denken und aus Denken Form. Noch bevor andere Bewegungen die Rückbesinnung auf die Mythen und auf das Durchdringen von Denken und Fühlen setzten, wurde Beuys für viele zum archaischen Zauberer und Priester, zum Schamanen.

Beuys‘ Werk mag, soweit es handelbar ist, überschaubar sein. Die Folgen seines Wirkens sind noch nicht absehbar. Morgen wäre dieser Künstler, der die Umgestaltung der Gesellschaft als die größte künstlerische Aufgabe angesehen hat, 65 Jahre alt geworden.

HNA 11. 5. 1986

Schreibe einen Kommentar