Tod oder Schöpfung?

Mit Hilfe von Zitaten läßt sich alles beweisen. Gelegentlich auch das Gegenteil. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, Meister der logischen Verknüpfungen, ist eines der jüngsten „Opfer“ einer solchen widersprüchlichen Beweisführung. Streitobjekt ist die die 39teilige Installation „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ von Joseph Beuys, die als sein Vermächntnis in der Kasseler documenta 8 gezeigt wird.

Heiner Bastian, Berliner Kunstpublizist, hat die „Blitzschlag“-Installation eingerichtet; er liefert auch im documenta-Katalog die Deutung zu diesem Werk mit. Er empfindet diese Arbeit als „ein Bild auf der Seite des Finales“; „nirgendwo sonst ist die Todesweihe eindringlicher … in einer großen Skulptur verwirklicht worden“. Dementsprechend stellt er seinem Katalog-Text folgendes Wittgenstein-Zitat voran: „Aus der frühen Kultur wird ein Trümmerhaufen und am Schluß ein Aschenhaufen werden, aber es werden Geister über der Asche schweben.“

Vor wenigen Tagen nun ist ein kleines, nur 24 Seiten starkes Heft (Edition Staeck, Heidelberg, 5 DM) erschienen, das sich ebenfalls mit dem „Blitzschlag“ auseinandersetzt. Autor des Bändchens ist der Beuys-Sohn Wenzel, der sich sehr behutsam an das letzte große Werk seines Vaters herantastet und dabei die Installation aus der naturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, die für den Künstler Joseph Beuys immer eine ursprüngliche und wegweisende
Blickrichtung bot. Auch Wenzel Beuys schickt seinem Text ein Wittgenstein-Wort voran: „Das künstlerische Wunder ist, daß es die Welt gibt. Daß es das gibt, was es gibt.“

Kein Zweifel: Das zweite Wittgenstein-Zitat ist zielgerichtet gegen das erste eingesetzt und soll es aufheben. Die frühe Kultur als Aschehaufen – oder die Freude darüber, daß es diese Welt gibt. Während Bastian die „Blitzschlag“-lnstallation als ein Bild des Todes versteht, als ein Endzeit-Szenarium, aus dem der
Mensch längst verschwunden ist, führt Wenzel Beuys in die entgegensetzte Richtung. Aus dessen Sicht schlägt der Blitz, der zum Keil erkaltet, in die Urerde ein; er ermöglicht (mit dem Lichtschein) das erste Leben, die Urtiere (Lehmlinge) – in der Installation als 35 unförmige Bronzegüsse anwesend. Auch Hirsch und Ziege deutet der Beuys-Sohn mit Blick auf Schöpfung und Leben, auf Menschen und Kultur.

Je länger und intensiver man sich mit Beuys und seiner Vorstellungswelt beschäftigt, desto plausibler erscheint der auf die Schöpfung verweisende Deutungsversuch seines Sohnes. Auch Rhea Thönges, Mitarbeiterin der von Beuys geschaffenen Freien Internationalen Universität, denkt in die gleiche Richtung, indem sie auf Prometheus verweist, der aus Lehm die ersten Wesen formte und den Menschen das Feuer (Blitz, Lichtschein) brachte.

Streit um die richtige Deutung von Kunstwerken hat es immer gegeben. Hier reicht dieser Streit aber tiefer, denn es geht nicht nur um diese Installation, sondern um zwei zentrale Fragen: Steht am Ende von Beuys‘ Schaffen eine resignative Arbeit? Und: Wie wird das Beuys- Erbe verwaltet?

Rhea Thönges und der Beuys- Assistent Johannes Stüttgen wenden sich entschieden gegen die pessimistische Interpretation durch Heiner Bastian. Im zukunftsgerichteten Denken von Beuys hat es ihrer Meinung keine Wende gegeben. Stüttgen erneuerte auch in einem Gespräch mit unserer Redaktion seinen Vorwurf an Bastian, die Beuys-Arbeit auf der documenta „in völliger Harmlosigkeit inszeniert“ zu haben (siehe unsere Zeitung vom 18.8.). Es werde gar nicht bewußt, daß die Zuordnung der 39 Teile zueinander nicht von Beuys vorgenommen sei, sondern von Bastian stamme. Und Bastians Behauptung, die Installation sei bereits 1985 in London gezeigt worden, sie entspreche also genau den Vorstellungen von Beuys, sei nicht zutreffend, da dort der „Blitzschlag“ allein ausgestellt worden sei.

Für Stüttgen ist der Kasseler Beuys-Raum ein Warnsignal. Beuys-Installationen könnten von anderen nicht nachempfunden werden. So werde sein Erbe aufs Spiel gesetzt.

HNA 25. 8. 1987
HNA 25. 8. 1987

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