Mit der Arbeit Wirtschaftswerte beschwört die documenta 9 Joseph Beuys als Ahnherrn aktueller Kunst. Beuys brachte in ihr Kunst und Leben in eine spannungsreiche Beziehung.
Joseph Beuys (1921 – 1986) gilt als einer der wesentlichen Motoren und Erneuerer der Kunst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Indem er den Blick von der Form weg auf die Materialien und Stoffe selbst lenkte, indem er klar machte, daß Fett, Filz, Honig, Wachs und Blei Bedeutungsträger an sich sind, baute er die Schranken zwischen Kunst und Leben ab. Mit seinem Kasseler Projekt 7000 Eichen, das er 1982 zur documenta 7 startete, gelang ihm schließlich auch der für alle nachvollziehbare Schritt von der Kunst ins Leben. Die Kunst als Über-Lebensmittel war für ihn unter diesen Bedingungen keine Utopie mehr.
Als einziger Künstler war Beuys in ununterbrochener Folge auf sechs documenten mit Werken vertreten. Auch für den diesjährigen documenta-Leiter Jan Hoet gehört Beuys zu den wichtigsten Vaterfiguren zeitgenössischer Kunst. Da Hoet sich aber frühzeitig festgelegt hatte, nur Werke von lebenden Künstlern zu präsentieren, schied Beuys als documenta-Künstler aus.
Trotzdem ist der rheinische Bildhauer und Aktionskünstler ein siebtes Mal auf der documenta vertreten. Den Weg dahin fand Hoet über sein visuelles Vorwort zur Ausstellung, das er im Zwehrenturm einrichtete. Dort versammelte er (als kollektives Gedächtnis) Arbeiten von David, Gauguin, Ensor, Giacometti, Beuys, Daniels und Byars, um sichtbar werden zu lassen, von welcher Warte aus er die heutige Kunst betrachtet.
Beuys Installation Wirtschaftswerte ist aber mehr als eine Erinnerung an ein großes künstlerisches Werk – es ist eine Arbeit mit einer ungeheuer großen wirtschafts- und kunstpolitischen Sprengkraft: Vor sechs Gemälden des 19. Jahrhunderts aus der Neuen Galerie in Kassel steht ein sechsteiliges Metallregal mit Waren aus einem Ostberliner HO-Laden. Beides sind Wirtschaftswerte – die gemalten Bilder und die fast bildlosen Packungen mit Hafermehl, Haushaltsgraupen und Tempo-Erbsen. Aber ganz unmißverständlich schieben sich die faden Lebensmittel vor die schöne Kunst.
Hat die ebenfalls zur Ware gewordene Kunst als Lebensmittel ausgespielt oder sah Beuys in dem unattraktiven Warenangebot der DDR eine Alternative zum kapitalistischen System? Beuys selbst hielt mehr Fragen als Antworten bereit. Gewiß hatte für ihn die Verschönerungskunst ausgespielt. Doch ebenso klar war für ihn, daß der einstmals im Ostblock praktizierte Sozialismus keine wirkliche Alternative war. Beuys suchte einen dritten Weg, einen. auf dem sich die Kreativität in den Dienst der Lebensgestaltung stellen konnte.
So sind die HO-Waren, die wir heute nach der Vereinigung als eine Erinnerung an unselige Zeiten und Zustände sehen, nicht Repräsentanten einer
besseren Welt gewesen. In ihrer Kargheit, Schlichtheit und Armseligkeit waren sie für ihn eher unmißverständliche Sicherungsmittel des Lebens und
Überlebens: Ohne sie kommt man nicht aus, ohne sie gibt es auch keine Kunst.
Es könnte eine Ermutigung zur Umkehr sein: Wie man in der Alltagswirtschaft davon wegkommen muß, sich von den Verpackungen blenden zu lassen, und wie man sehen muß, sich auf die Grundbedürfnisse zu besinnen, so muß man in der Kunst eine Sprache finden, die auf die Anforderungen des Lebens zugeschnitten ist. Wie ein Warn- und Mahnzeichen steht vor den Regalen ein Block aus Gips und Fett – als ein Sinnbild der Erstarrung.
HNA 29. 7. 1992