Wer darf Beuys spielen?

Vorher gab es kaum Zweifel: Die Installation der 39teiligen Arbeit „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ sollte zu einer der Attraktionen der Kasseler documenta 8 werden. Noch nie zuvor sei diese letzte große Arbeit von Joseph Beuys in gültiger Form gezeigt worden, hieß es. Die documenta-Macher reservierten auch den letzten richtig hohen (und damit schönsten) Raum im Museum Fridericianum für den von der Decke hängenden, über sechs Meter hohen Blitzschlag aus Bronze sowie die auf dem Boden liegenden und stehenden Urtiere Hirsch, Ziege und Bothia Felix. Da man an der Installation vorbei durch die Fenster zugleich auf eine andere Beuys-Arbeit blicken konnte, nämlich auf den ersten und letzten Baum der Aktion „7000 Eichen“, die genau zur Eröffnung der documenta 8 vollendet wurde, schien alles bestens.

Genau diese Harmonie aber rief laute Kritik hervor. „Eine solche Puppenstube hätte Joseph Beuys nicht gewollt“, meinte Johannes Stüttgen, langjähriger Assistent von Beuys. In zwei Vorträgen der Freien internationalen Universität (FIU), die parallel zur documenta ein Seminarprogramm im Kasseler Naturkundemuseum veranstaltete, zog er gegen die rein ästhetische Präsentation des „Blitzschlages“ zu Felde. Bis dahin hatte die Kritik zustimmend bis wohlwollend die Beuys-Arbeit zur Kenntnis genommen. Wer hatte schon darüber nachgedacht, wie denn im Sinne von Beuys mit diesen 39 Einzelstücken umzugehen sei, wie sie einander zugeordnet werden könnten?

Für Heiner Bastian, ebenfalls enger Weggefährte und Interpret von Beuys, gab es keine Zweifel. Er hatte die Präsentation vorgenommen und fühlte sich dabei im guten Recht, denn schließlich habe er mehrfach gemeinsam mit Beuys installiert und habe die Art und Weise, wie der Blitzschlag aufzuhängen sei, gemeinsam mit Beuys im November 1985 bei der Londoner Ausstellung „Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert“ entwickelt. Bastian damals: „Diese Inszenierung ist gar nicht meine Erfindung.“ Die Vorstellung von Stüttgen, den provisorischen Charakter der Arbeit zu betonen und alle Teile der Installation nebeneinander zu legen, um zu zeigen, daß die Anordnung nicht von Beuys stamme, empfand Bastian als „vollkommen wahnsinnig“. Stüttgen seinerseits konnte darauf verweisen, daß Beuys immer nur für einen Ort eine Arbeit aufgebaut habe. So habe er etwa die zur documenta 6 geschaffene Honigpumpe bei der Retrospektive im New Yorker Guggenheim-Museum auch lediglich im Depot-Zustand gezeigt.

Aber wie ist es denn nun wirklich? Kann man mit den Teilen einer Installation so umgehen wie mit einzelnen Objekten, die man mit mehr oder wenig gutem Einfühlungsvermögen aufeinander bezieht? Die Frage stellt sich grundsätzlich, weit über Beuys hinaus, bei Beuys stellt sie sich aber mit besonderer Schärfe, weil für seine Arbeiten das klassische ästhetische Prinzip, nämlich das der oberflächlichen Wirkung, nicht gilt. In seinen Arbeiten setzen sich komplizierte Mechanismen in Gang, die von den Materialien, den Stoffen, genauso ausgehen wie von den Formen und die aus ihren geistigen Kräften besondere Bezüge entwickeln. Die schöne Form kann also die falsche sein. Folglich spitzt sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu: Wer darf Beuys spielen? Und wer könnte es überhaupt?

Als Johannes Stüttgen seine Kritik an Bastians Installationsweise äußerte, dachte er über Kassel hinaus. Er hatte bereits Darmstadt im Sinn und den dort im Landesmuseum beheimateten größten zusammenhängenden Werkkomplex von Beuys. Alles sprach damals dafür, daß Bastian als Ausstellungsleiter der großen Berliner Beuys-Ausstellung (19. Februar bis 1. Mai im Martin-Gropius-Bau) wichtige Teile des Darmstädter Blocks nach Berlin holen würde. Dabei wäre es nicht nur um Objekte, sondern auch um Vitrinen mit zahlreichen fragilen und kaum transportierbaren Einzelteilen gegangen.

Beuys hatte 1979 zur Guggenheini-Schau noch wesentliche Elemente des Darmstädter Blocks nach New York bringen lassen. Der Unterschied zu einem heutigen Abtransport aber bestand darin, daß Beuys auch derjenige war, der die Arbeiten bei ihrer Rückkehr nach Darmstadt wieder mit aufbaute und ordnete. Überhaupt kam der Düsseldorfer Künstler immer wieder nach Darmstadt, um an diesem Block weiter zu arbeiten; er war für ihn eine permanente Arbeitsstätte, ein eigenes Energiefeld.

Wäre jetzt aber der Block auseinandergerissen und zu einem Teil nach Berlin verpflanzt worden, wäre die Installation von letzter Hand zerstört worden. »Wer will das Installations-Original gegen eine Imitation eintauschen?« fragte denn auch Dieter Koepplin in einem Papier zu diesem Streit. Koepplins klare Thesen wurden zu einer wesentlichen Argumentationshilfe für den Initiativkreis zur Erhaltung des Beuys-Blocks in Darmstadt, in dem sich Johannes Stüttgen, Felix Droese, Eva Huber, Dietrich Erichsen und Dieter Koepplin zusammengefunden hatten und die von Klaus Gallwitz, Kasper König, Klaus Staeck und anderen noch gestützt wurden. Der Aufstand führte zum Erfolg: Erst räumte Bastian ein, er wolle nicht an die Vitrinen und anderen fragilen Dinge herangehen, dann verzichtete er ganz auf Leihgaben aus Darmstadt.

Aber nicht nur die Angst, die Beuys-Installation könne zur Imitation werden, trieb den Freundeskreis auf die Barrikaden. Fast ebenso groß war die Furcht, mit dem Umzug der Leihgaben von Darmstadt nach Berlin begänne der endgültige Abbruch des Beuys- Blocks. Neue Nahrung erhielt diese Angst, als klar wurde, daß Bastian als Berater des Berliner Sammlers Erich Marx einen der beiden 50-Prozent-Eigentümer des Beuys-Blocks vertrat; die andere Hälfte gehört dem Londoner Galeristen Anthony d‘Offay. Man sah den Darmstädter Beuys-Schatz schon in Stuttgart landen, verkauft an Baden-Württemberg oder hineingezogen in ein Museum für die Marx-Sammlung, oder gar in die USA abwandern.

Neben der Frage, ob man schon heute, so kurz nach dem Tod von Beuys, dessen Installationen verändern könne und dürfe, und neben der Furcht vor einer Spekulation und vor einem Ausverkauf der Beuys-Werke gibt es für den geführten Streit auch noch einen inhaltlichen Gesichtspunkt. Es geht vor allem um die Frage, ob Beuys kurz vor seinem Tod von seinen zukunftsgewandten Visionen abgerückt sei.

Heiner Bastian hatte seinem Text für den documenta-Katalog ein Zitat von Ludwig Wittgenstein vorangestellt: „Aus der frühen Kultur wird ein Trümmerhaufen und am Schluß ein Aschenhaufen werden, aber es werden Geister über der Asche schweben.“ Dementsprechend hatte er den »Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch« als ein Bild der Endzeit beschworen: „Der Mythos der Natur ist angehalten in Resten. Zu besichtigen ist der auf sie endlos einwirkende Geist der Vernichtung. Entstanden ist ein ‘Raum ohne Erinnerung, ein Raum, der sich zur Kälte neigt‘ (J. B.). Im Werk von Joseph Beuys findet sich dergleichen nicht. Nirgendwo
sonst ist die ‘Todesweihe‘ (J. B.) eindringlicher ohne jede hierarchische Prophetie in einer großen Skulptur verwirklicht worden. Hier hat jemand einen Mythos zu Ende gedacht…“

Johannes Stüttgen wandte sich entschieden gegen die Unterstellung, es habe zuletzt eine Wende im Denken von Beuys gegeben. Und Rhea Thönges von der FIU in Kassel stellte von dem Blitzschlag und den Urtieren eine Beziehung zu Prometheus her, der aus Lehm die ersten Wesen formte und den Menschen das Feuer (Blitz und Lichtschein) brachte.

Noch entschiedener ging Beuys-Sohn Wenzel vor. In einem kleinen Heftchen (Edition Staeck, Heidelberg, 24 5., 5 DM) tastete er sich behutsam an das Werk seines Vaters heran und betrachtete den »Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch« aus der Perspektive, die für Joseph Beuys ursprünglich und wegweisend war — nämlich aus der Sicht der Naturwissenschaft. Demnach schlägt der Blitz, der zum Keil erstarrt, in die Urerde ein. Mit dem Lichtschein ermöglicht er das erste Leben, die Urtiere (Lehmlinge), die über sich selbst hinausweisen, weil sie in ihrem Kern Werkzeuge bergen. Auch Hirsch und Ziege (diese ebenfalls als Werkzeug) deutet der Beuys-Sohn mit Blick auf Schöpfung und Leben, auf Menschen und Kultur. Und das Objekt Felix Bothia wird dabei als ein aufs Podest gehobener Abdruck der Natur zum Pol, zum Ordnungsfaktor.

Dem Bild der Todesweihe ist das der Schöpfung entgegengesetzt. Beide Elemente waren stets im Werk von Beuys vorhanden. Doch viel spricht dafür, daß Wenzel Beuys näher an die eigentliche Bedeutung heranführt. Er setzte in seinem Büchlein dem von Bastian benutzten Wittgenstein-Zitat ein anderes Wort dieses Philosophen entgegen: „Das künstlerische Wunder ist, daß es die Welt gibt. Daß es das gibt, was es gibt.“

Kunstforum 1987

Schreibe einen Kommentar