Mßverständnisse allzumal

Man müßte eigentlich mal eine Statistik anlegen über die Zahl und Arten der Mißverständnisse, denen die documenta 5 ausgesetzt war und ist, sowie denen sie sich selbst ausgesetzt hat. Jedenfalls würde eine nicht so schnell endende Reihe entstehen, die am Wochenende während eines Seminars der Evangelischen Akademie Hofgeismar noch um einige Spielarten bereichert wurde. Aber vielleicht kann man angesichts der so unterschiedlichen Erwartungen, Ansprüche und Voraussetzungen nur über die Sammlung der Mißverständnisse endlich zu der Feststellung gelangen, was die documenta 5 wirklich war, was sie leisten konnte, tatsächlich geleistet und tatsächlich nicht geleistet hat.

Das Mißverständnis dieses Seminars lautete: die documenta 5 hatte eine pädagogische Themenstellung, die sie nicht beherrschte; sie hätte Kunst für den Konsumenten in einem klaren didaktischen Rahmen gebrauchsfertig aufbereiten müssen; sie sei aber nur eine Ausstellung für die Eingeweihten und Gebildeten, nur für eine elitäre Schicht, gewesen.

In seinem Einleitungsreferat über das Presse-Echo zur documenta 5 hatte Lothar Orzechowski, Kunstkritiker unserer Zeitung, darauf hingewiesen, daß verschiedene Berichterstatter sich an dem ursprünglichen und später verworfenen didaktischen Konzept orientiert, die Ausstellung daran gemessen und demzufolge abgetan hätten. Offensichtlich unbewußt verfuhren während des Seminars auch zahlreiche Diskussionsteilnehmer nach diesem Prinzip. Das Interesse an der Didaktik und die relative Einhelligkeit der Beurteilung waren deshalb so groß, weil die Pädagogen und Schüler nahezu unter sich waren.

So gut und niveauvoll, man kann auch sagen: elitär, die Aussprache war, so ergiebig für die pädagogische Praxis, so sehr vermißte man den Gegenpart, sprich Künstler und Kunstmanager. Die documenta 5 als Neuheitenmesse der Kunst, worin ihre weltweite Bedeutung liegt, stieß in diesem Kreis eher auf Ablehnung. Man wollte im Grunde eine Ausstellung, die das schafft, was bisher weder eine Ausstellung geschweige unser Bildungssystem geleistet haben, nämlich die Kunst der Allgemeinheit verfügbar und verständlich zu machen. Der Ruf also nach dem ursprünglichen Konzept. Warum nicht? Nur das eben wäre keine verbesserte documenta, sondern eine grundsätzlich andere.

Diese Forderungen führten immerhin dazu, daß der Vater der documenta, Prof. Arnold Bode, zusagte, an den Vorplanungen für eine sechste documenta Pädagogen
zu beteiligen. Bodes Vorstellung nach sollte ein didaktischer Ring, eine erweiterte Besucherschule, die Ausstellung umschließen. Der voller Ideen sprühende Kunstprofessor, der unverdrossen näch vorn blickt, skizzierte in wenigen Worten den weiteren Weg, den er trotz Kritik und Defizit sieht: ein eigenes und ständiges Gebäude für die documenta – etwa das Fridericianum oder die ausgebaute Orangerie – ein Gebäude, das auch zwischen den documenten Treffpunkt und Ausstellungsraum sein könnte; eine Ausstellungsweise, die wieder stärker aus dem Museum herausführe; und als Zwischenstation auf dem Weg zur Nr. 6 eine „Urbana“, eine Schau über städtisches Planen und Leben.

Pläne über Pläne. Für Arnold Bode kommt die nächste documenta bestimmt. Doch soll sie anders sein als die eben geschlossene. Das Seminar hat Bode darin bestärkt.

HNA 16. 10. 1972

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