Vieles kommt unter Glas

Die documenta verliert von Tag zu Tag mehr an Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit. Mitverantwortlich sind dafür die Besucher, die meinen, ihr Mißfallen an den Ausstellungsstücken durch Beschädigungen bekunden zu müssen, oder die auch hier nicht auf kindische Kritzeleien verzichten können. Fünfzig Beschädigungen wurden in den ersten zehn Tagen registriert. Die Folge ist, daß immer mehr Räume abgesperrt werden und immer mehr Bilder hinter Glas kommen.

Ein Besucher, der die Eröffnungsberichte über die documenta 5 gelesen hat und erst jetzt die Ausstellungsräume betritt, muß enttäuscht sein, denn erstens sind einige Aktionskünstler abgereist und zweitens erscheinen manche Räume und Objekte längst nicht mehr so, wie sie beschrieben wurden. Die augenfälligsten Veränderungen wurden im Fridericianum vorgenommen:

• Barry Le Vas „Glasstück ohne Titel“ ist aufgrund der weitgehenden „Zersplitterung“ durch Betreten weggeräumt worden. Während man sich darüber streiten kann, ob die Glasscheiben nicht direkt zum Betreten einluden, es sich also um ein bloßes Mißverständnis der Besucher handelt, gibt es wohl kaum Verständnis für das Zerschneiden des im selben Raum hängen den Dreiecks.

• Agnes Martins Bild „Lake“ , wurde entfernt, weil Besucher darauf herumgemalt hatten. Im selben Raum wurden auch neben Richard Tuttles zarte Wandarbeiten Kugelschreiberstriche gesetzt.

• Klaus Rinkes „Wasserzirkulation“ wurde durch eine Drahttür abgesperrt, weil Seife und Farbe in das Wasserbecken geworfen wurde und man befürchtet, die Schläuche könnten zerschnitten werden.

• Zerstochen und wieder geflickt wurde gleich am Anfang die „Oase Nr. 7 von Haus Rucker Co, die sich aus dem Fridericianum wölbt.

documenta-Generalsekretär Harald Szeemann meint dazu, daß er genau die Schwierigkeiten kenne, die Ausstellung zu erleben. Doch wenn jemand die Ausstellung oder einen Teil von ihr schlecht finde, so könne er das sagen, brauche es aber nicht auf das Bild zu schreiben. Seit Sonntag habe es zwar keine Beschädigungen mehr gegeben, da es jetzt nach „Übergabe der Ausstellung an die Öffentlichkeit“ in erster Linie um den Schutz der Werke gehe, werde nun radikal alles unter Glas gebracht oder durch Absperrungen gesichert. Er wisse ganz genau, daß dadurch gegen den Willen vieler Künstler gehandelt werde, aber es sei nun einmal so, daß eine geöffnete Ausstellung ihren die eigenen Gesetzen folge.

Wörtlich meint Szeemann: „Es war klar, daß wir die Ausstellung nicht hundert Tage lang lebendig halten konnten.“ Er hofft allerdings, daß die documenta 5 so zu Ende geht, wie sie begonnen hat, nämlich als lebendiges Ereignis: Viele Künstler, die Aktionen machen, haben zugesagt, während der letzten der hundert Tage wieder nach Kassel zu kommen. Dann dürfte auch manche Absperrung wieder verschwinden.

HNA 12. 7. 1972

Schreibe einen Kommentar