Es gehört zur Eigenart der documenta 6, daß sie in einigen Bereichen das vollzieht, was ihre Vorgängerin geplant, aber dann doch nicht verwirklicht hatten. Ursprüngliches Fundament der documenta 5 war der Gedanke, die heutigen Bildwelten – jenseits der Unterscheidungen Kunst oder Nicht-Kunst – in ihrer Breite, Unterschiedenheit und gegenseitigen Abhängigkeit zu präsentieren. Konsequent sollte neben die malerischen und grafischen Arbeiten auch die Fotografie gestellt werden. Dazu kam es 1972 aus verschiedenen Gründen nicht.
Nun wurde ein erneuter, diesmal erfolgreicher Anlauf unternommen: Aus den 150 Jahren Fotografie-Geschichte werden rund 800 Arbeiten von 130 internationalen Fotografen gezeigt. Nach Klaus Honnef, der zusammen mit Evelyn Weiss für diese Abteilung verantwortlich ist, wird dies die bisher umfassendste Dokumentation anspruchsvoller Fotografie sein.
Und doch waren Evelyn Weiss und Klaus Honnef kurz vor Fertigstellung der Fotoschau unzufrieden: Platzmangel im Fridericianum zwang sie, auf ein Fünftel der 1000 vorliegenden Fotografien zu verzichten und außerdem die Abteilung so aufzuteilen, daß die aktuelle Künstler-Fotografie in die Neue Galerie verlegt wurde.
Die trotzdem immer noch sehr breit angelegte Dokumentation der klassischen Fotografie (die nicht historisch, sondern methodisch gegliedert ist) wird zu den stillen Bereichen im Museum Fridericianum zählen. Die relativ kleinformatigen Platten- und Negativabzüge werden in einem Raster einheitlicher Holzrahmen gezeigt. Die Uniformität der Rahmen läßt den Charakter der einzelnen Arbeiten besser hervortreten.
Die Besucher der documenta werden die reiche und vielfältige Vergangenheit der Fotografie kennenlernen, die durch die Urväter Jopseph Nicéphore Nièpce, Louis Daguerre und William Henry Fox Talbot ebenso markiert wird wie durch die späteren deutschen Großmeister August Sander, Albert Renger-Patzsch und Karl Blossfeldt. Wer sich Ruhe und Zeit läßt, wird die großen Momente aus der Geschichte der Fotografie ablesen und – im Sinne Honnefs – die Kriterien für die Beurteilung der heutigen Foto-Szene sammeln können.
Klaus Honnef zielt mit diesem Unternehmen ins Grundsätzliche: Sein Katalog-Vorwort, das zu einem Essay über das Wesen der Fotografie geraten ist, schließt denn auch mit einem Appell; er fordert die Museen auf, sich vorurteilsfrei mit der Fotografie auseinanderzusetzen, d. h. Fotografie gleichermaßen wie herkömmliche Kunstwerke auszustellen und zu sammeln. Im gleichen Zusammenhang bekennt er sich dazu, daß Fotografien prinzipiell Kunstwerke sein können, läßt sich jedoch auf die Diskussion über die Kriterien von Fotografie als Kunst nicht ein.
In der Tat schien es in der deutschen Kunstszene vor zwanzig Jahren noch schier unmöglich, Fotografie als Kunst feilzubieten. Die totale Materialöffnung der Kunst aber und die Beschäftigung verschiedener Künstler mit der Fotografie (individuelle Mythologien, Spurensicherung) in den letzten Jahren wie auch die Anstrengungen einiger künstlerisch ambitionierter Fotografen erreichten schon eine gewisse Aufweichung der Fronten. Im vorigen Jahr beispielsweise warteten gleich mehrere große deutsche Kunsthallen mit Foto-Ausstellungen auf. Honnef wird also mit seinem Appell auch einige längst offene Museumstüren einrennen.
HNA 24. 6. 1977