Zweifelhaftes Schaufenster

30 Minuten lang sollte der Eintritt zur documenta 6 mit der Fernsehgebühr abgegolten sein, 30 Minuten lang sollte ablesbar werden, wie raum- und zeitsprengend Künstler heute zu arbeiten vermögen, so daß ihre Arbeiten und Aktionen im Moment des Entstehens in den Wohnstuben der Welt präsent sein können. Die Menschen zwischen Moskau und New York sollten am Freitagabend Gast auf der documenta sein, auch wenn sie nicht nach Kassel kommen würden. Ermöglicher und Vermittler waren Videokameras, Sender und Fernsehsatelliten – ohne Zwischenschaltung von Regisseuren und Cuttern.

Diese Idee gehört in die lange Reihe jener Ideen, die nur solange faszinieren, solange sie sich im Stadium des Konzeptes befinden. Die Ausführung läßt dann
leicht die Gedankengröße schrumpfen und die Unzulänglichkeiten einziehen: Ein zweifelhaftes Schaufenster der documenta 6.

Die Auswahl der Künstler für diese direkte Fernseh-Aktionen war sicherlich vom Prinzip her nicht schlecht, wenn man bedenkt, daß der Koreaner Nam June Paik als der Vater der Video-Kunst gilt und daß auch Joseph Beuys etwa sich schon früh mit den Möglichkeiten des Künstler- Films beschäftigt hat.

Doch was über den Bildschirm kam, waren Versatzstücke des Happenings zum Thema Fernsehen und Video (Paik) beziehungsweise Aussagen, die dieses Live-Aktions-Rahmens nicht bedurft hätten (Beuys). Man muß Beuys, der seine Diskussionen um die Erweiterung des Kunstbegriffs als Teil seines künstlerischen Schaffens begreift, zugutehalten, daß er die ihm zur Verfügung stehenden weltweiten Sendeminuten für seine Vorstellungen sehr gut genutzt hat; doch wurde durch die isolierende Studio-Atmosphäre in der Kasseler Orangerie die Ansprache beziehungslos. Ebenso fiel Paiks Aktion gedanklich und qualitativ weit hinter das zurück, was er in seinem Raum auf dieser documenta gestaltet hat.

Am ehesten hatte sich noch Douglas Davis auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums eingestellt und dabei erreicht, die Zuschauer in die Widersprüchlichkeit von körperlicher Entfernung und Bildnähe einzubeziehen.

HNA 27. 6. 1977

Schreibe einen Kommentar