Zwischen Träumen und Zahlen

Jonathan Borofsky. 1942 in Boston geboren und heute in Los Angeles lebend, ist einer der neuen Sterne am internationalen Kunsthirnmel. Seine Räume, die er für die Biennale in Venedig (1980) und die Kölner „Westkunst“-Ausstellung (1981) gestaltet hatte, erregten Aufsehen und Bewunderung. Es waren riesige, begehbare Bilder, in denen man sich angesichts der meist direkt auf die Wand gemalten Figuren, Zeichen und Zahlen verlieren, in denen man aber auch stundenlang lesen und träumen konnte; all die Bildbotschaften zwischen Fußboden und Decke beherrschte die riesenhafte Figur eines fluchten- den (Ur-)Menschen (,‚das kann ich selbst sein oder die Menschheit“).

Borofsky, der zu Beginn seiner künstlerischen Arbeit Skulpturen gefertigt und dann auf Leinwand gemalt hatte, empfindet Freude und Genugtuung bei dem Gedanken, daß er seine Bilder, indem er sie auf den Raum bezieht, für die Betrachter öffnen kann und daß er dem Publikum damit auch einen Weg in seine, Borofskys, Vorstellungswelt aufschließt. Es macht ihm Spaß, Bilder nur für einen Ort und eine absehbare Zeit zu entwerfen.

Viele dieser Bildbotschaften kommen direkt von innen, aus der Traumwelt. Jeden Morgen setzt sich der Künstler hin, beschreibt in seinem dicken Notizbuch die Träume der vergangenen Nacht und skizziert eindrucksvolle Traumbilder – gehörnte Köpfe, doppelte Gesichter und kleine Szenen. Die irrationale Welt der Träume ist die eine große Quelle für Borofskys Arbeit. Eine zweite sind die täglichen Eindrücke – Begegnungen, die Tageszeitung, Raumerlebnisse. Die dritte Quelle ist streng rational: Borofsky, der von der Konzept-Kunst herkommt, schreibt seit Jahren, in einer Art strenger Selbstdisziplinierung fortlaufend zählend, Zahlenfolgen nieder. Wo sich nun Traumbilder und Zahlenreihen treffen, da springt die nächstliegende Zahl in das Bild hinein. Das Mystische dieser Bildwelt wird durch diese überall wiederauftauchenden siebenstelligen Zahlen gesteigert, die Ziffernfolge wird zum Code.

Indem Borofsky seine Bildräume voll eindringlich-einfacher Figuren spontan entwickelt, indem er die herkömmlichen Bild- und Objektformate weit hinter sich läßt und seine vergängliche Konzeption ganz auf den Ausstellungsort zuschneidet, ist er der Prototyp der neuen Künstler-Generation. Wie Borofsky, den Kontrast zwischen rationaler und irrationaler Bildwelt liebt, so schätzt er auch die Spannung zwischen unübersichtlicher Fülle eines Raumes und karger Ordnung. Seine vor wenigen Tagen im Rotterdamer Boymans-van-Beuningen-Museum eröffnete Ausstellung ist eine der kargen Ordnung: In einer großen, weißen Halle stehen fünf schwarze, scherenschnitthafte, fünf Meter hohe Skulpturen aus Holz, Stahl, Aluminium und Fiberglas: „Arbeiter“ heißt diese Installation; die hammerschwingenden Arme der Riesen werden von Motoren bewegt.

Jonathan Borofsky möchte diese „Arbeiter“ gern auch während der documenta in Kassel zeigen; nicht aber in einem der offiziellen Ausstellungsrume, sondern am liebsten in einer Fabrikhalle, wie er jetzt bei Besuch in Kassel sagte. Bei einer ersten Ortsbesichtigung gefiel ihm als möglicher Ort am besten das Bundesbahnbetriebswerk. Unabhängig davon wird Borofsky innerhalb der documenta 7 vertreten sein. Zwar wird er keinen ganzen Raum für sich allein haben, doch wird er seine Wände überspringende Installation vor Ort entwickeln. Unentschlossen ist Borofsky auch noch, welche seiner monumentalen Schlüsselfiguren die Szene beherrschen wird – der fluchtende Mann, ein Mann mit Aktentasche, der Arbeiter oder ein Schütze: „Ort und Zeit entscheiden darüber, was ich mache.“

HNA 6. 3. 1982

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