Die Gesetze des Wachstums

„Ich halte die Ruine eines kleinen Hauses in den Alpen für wichtiger als die Ruine des Parthenon (in Athen) oder irgendeines römischen Palastes.“ Als Mario Merz am Ende unseres Gespräches dieses Bekenntnis ablegte, achtete er sorgsam darauf, daß ich es mir genau notierte, denn diese Einsicht sei grundlegend für sein Denken, Fühlen und Arbeiten.

Provoziert worden war das Bekenntnis durch die simple Frage, ob er nach wie vor in Turin wohne. Der 1925 in Mailand geborene Künstler antwortete mit einer flammenden Liebeserklärung an die romantische norditalienische Landschaft und einer vernichtenden Absage an die anderen, von der klassischen Kunst und Architektur geprägten Teile Italiens. Merz muß unter und an der klassischen Tradition stark gelitten haben.

Ebenfalls aus dem Blick auf die Überlieferung entstand ein weiteres Grundbekenntnis des Künstlers: Man darf nicht aufhören, über die Sprache der Kunst nachzudenken; nur indem man sich die Freiheit des Gestaltens bewahre, könne man wahrhaftig arbeiten. Und Mario Merz ist glücklich darüber, daß die Trennungen des vorigen Jahrhunderts überwunden und die starken Wechselbeziehungen zwischen Malerei, Skulptur und Architektur wieder erkennbar sind. Er sieht denn auch alle Bereiche der Kunst als ständig verfügbar an.

Als er vor geraumer Zeit mit einigen vital gemalten Bildern an die Öffentlichkeit trat, löste dies Überraschung aus. Für Merz hingegen, der ja auch früher gemalt hat, waren die Gemälde kein Ereignis, sondern notwendige Übungen für sich selbst. Auch bei der documenta 7 wird Merz mindestens eines seiner Bilder vorstellen.
Bekannt geworden ist er durch völlig andere Arbeiten, durch Skulpturen und Installationen, die aus der direkten Reaktion auf Zeiterscheinungen entstehen. Ähnlich wie Beuys in Deutschland entwickelte Merz eine Ausdrucks- und Gestaltungsweise, mit deren Hilfe er geistige und politische Energien, Spannungen im Raum, Ängste und Hoffnungen fassen und bildhaft ausformulieren kann. Dabei nutzt er die Materialien – wie Wachs, Erde, Stein, Metall und Neon — als elementare Botschafter. Die Stoffe sind nicht nur Bausteine für etwas, sondern stehen für eigene Mitteilung (Wärme, Kälte, Wachstum, Energie).

Seine Ideen setzt Merz spontan und direkt um. Spätestens aber seit er auf die Zahlenreihe des Naturphilosophen Leonardo Fibonacci (um 1200) gestoßen
ist, hat Merz in seine emotionalen Bildlösungen ein rationales System eingebunden. In Fibonaccis Zahlenreihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21… ergibt sich jeweils eine Zahl aus der Summe der beiden vorangegangenen. Der Künstler sieht in dieser Reihe ein Baugesetz, das er für zahlreiche seiner Arbeiten anwandte. So baute Merz nach diesem.Gesetz eine wachsende, das Volumen eines Hauses sprengende Spirale, konstruierte er Iglus und nahm mit Neonzahlen aus dieser Reihe Wände in Beschlag.

Die Arbeiten sind stets gleichnishafte Antworten auf Situationen, voller Spannung, Kraft und Poesie. Politisches verbindet sich mit Romantischem. Die eigenschöpferische Reaktion des Betrachters ist herausgefordert. Auch zur documenta 7 wird Merz einen Iglu bauen; möglicherweise wird aber aus dem Plan für eine große Außenskulptur nichts. Außerdem will der Italiener aus Metall, Stein und Glas einen Tisch bauen, der zugleich zu einer Auseinandersetzung mit der Skulptur als auch mit der Tradition werden soll.

„Mario Merz verkörpert den Künstler als Träumer und Systemanalytiker ohne Widerspruch in einer Person,“ heißt es unter anderem in der Begründung, mit der ihm der ArnoldBode-Preis 1981 zuerkannt wurde. Heute wird ihm dieser Preis im Kasseler Rathaus überreicht.

HNA 30. 4. 1982

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