documenta-Retroperspektive

Catherine David hatte für ihre documenta X (1997) den Begriff der Retroperspektive entwickelt, der meint, dass man nur dann gut nach vorne gehen/fahren könne, wenn man sich des Blicks nach hinten vergewissert habe.

Für die Vorbereitung ihrer documenta 13 (2012) greift Carolyn Christov-Bakargiev diesen Gedanken auf: „Die documenta 13 wird aus einer archäologischen Perspektive, einer ökologischen Beziehung zur Vergangenheit heraus entwickelt, in der jedes für die Zukunft geplante Kulturprojekt sich aus einem Blick zurück entwickeln muss – wie stellte man sich etwa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gegenwart vor und was galt bei den verschiedenen documenta-Ausgaben jeweils als dringendes Anliegen?“

Mit diesem Satz begründet sie, warum sie ihre in die Zukunft führende documenta-Reise am 18./19. September im von ihr geleiteten Castello di Rivoli in Turin mit einer Konferenz beginnen will, in der alle lebenden früheren documenta-Leiter sprechen werden. Sie sollen versuchen, ihre jeweiligen Ausstellungskonzeptionen aus dem Bezug und Verständnis der damaligen Gegenwart zu beschreiben. Wie waren sie von dem Zeitgeist geprägt – und was würden sie anders machen?

Im Februar 1990 hatte es in Kassel noch einen Aufschrei gegeben, als der damalige documenta-Leiter Jan Hoet erst zu einem Marathon-Gespräch nach Gent (1990) und dann nach Weimar (1991) einlud. Kassel, so hieß es, sei doch die Stadt der documenta. Da müssten auch die Vorbereitungsgespräche geführt werden. Aber Hoet ließ sich nicht beirren. Mit seinen beiden Marathon-Veranstaltungen setzte er Zeichen. Und ihm gelang erstmals, was nun auch Carolyn Christov-Bakargiev vorhat: Er lud seine Vorgänger (Harald Szeemann, Manfred Schneckenburger und Rudi Fuchs) ein. Sie gaben dort aber nur kurze, im Grunde wenig förderliche Statements ab.

Harald Szeemann kann in Turin nicht mehr dabei sein. Als Sprecher der documenta 5 (1972) kommt stattdessen der Kurator Jean Christophe Ammann, der zuletzt Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst war. Aber alle späteren documenta-Leiter sind dabei: Schneckenburger, Fuchs, Hoet, David, Okwui Enwezor und Roger Buergel. Es ist zu hoffen, dass dabei wirklich einige Kapitel der documenta-Geschichte aufgearbeitet werden.

Auswärtige Diskussionsrunden haben bei der documenta-Vorbereitung mittlerweile Tradition und regen niemanden mehr auf. Catherine David lud im Vorfeld zu einer öffentlichen Diskussion nach Wien, und Okwui Enwezor veranstaltete eine ganze Reihe von Plattform-Diskussionen zu Fragen der politischen Kultur rund um den Globus. Nach Enwezors Verständnis hatte mit der ersten Plattform in Wien (März 2001) die Documenta 11 (2002) begonnen. Eine nahezu ähnliche Position vertritt Carolyn Christov-Bakargiev. Sie schreibt in ihrer Einladungsmail für Turin: „Für die an der Organisation der nächsten documenta Beteiligten beginnt die Reise öffentlich am 18. September 2009.“

Auch Roger Buergel, seine Frau Ruth Noack und ihr Partner Georg Schöllhammer veranstalteten auf nahezu allen Kontinenten Konferenzen mit Künstlern, Kunstvermittlern und Kunst-Redaktionen, um bei der Vorbereitung der documenta 12 (2007) näher an den jeweiligen regionalen und lokalen Wurzeln der Kunst heranzukommen.

Das Castelli di Rivoli ist für die documenta-Leiterin auch deshalb ideal, weil Rudi Fuchs dessen erster Direktor war. Für Carolyn Christov-Bakargiev geht es bei der documenta-Vorbereitung nicht bloß um die Fragen der Zeit, der Gesellschaft und der Kultu: „Gleichzeitig begeistert sie sich …persönlich für das Unlogische, Verspielte und Poetische, für das Zelebrieren von Kunstwerken und dafür, Besucher eines Ereignisses wie der documenta einzubinden und es für sie zu einer einzigartigen Erfahrung zu machen, heißt es in der Pressemail.

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