Zwischen Freiheit und Ideologie

Der Neubeginn der Kunst in Deutschland nach 1945

Zwei große Ausstellungen haben in diesem Jahr versucht, die Kunst der vergangenen 60 Jahre in Deutschland zu würdigen. Die eine war im Berliner Gropiusbau unter dem Titel „60 Jahre – 60 Werke“ zu sehen, die andere, die sich dem Thema „Kunst und Kalter Krieg“ widmete, gastierte zuerst in Los Angeles und Nürnberg und wird vom 3. Oktober bis 10. Januar im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen sein.
Die repräsentativ gedachte und von acht prominenten Kuratoren zusammengestellte Schau „60 Jahre – 60 Werke“ musste heftigste Kritik einstecken, zum einen, weil sie nur die bekannten Positionen bestätigte, die politisch-kritische Kunst weitgehend ausklammerte und die Kunst der DDR völlig außen vor ließ. Indem Walter Smerling als Vorsitzender der veranstaltenden Stiftung Kunst und Kultur im Katalog schrieb, die Ausstellung zeige „künstlerische Positionen, die auf der sicheren Grundlage des Grundgesetzes, d. h. auf der staatlich garantierten künstlerischen Freiheit ihre Entfaltung fanden“, belebte er noch einmal den Konflikt, der in den 50er- und 60er-Jahren latent die kunstpolitischen Debatten beherrscht hatte. Die westdeutsche und damals vornehmlich abstrakte Kunst galt als ein Fanal der Freiheit und damit als Gegenpol zur staatlich gelenkten Kunst in der DDR. Und so klingt es wie ein Hohn, wenn Smerling weiter schreibt: „Künstler aus dem Osten des wiedervereinigten Deutschlands, die erst seitdem die Chance hatten, unter den Bedingungen des Grundgesetzes zu arbeiten, sind daher in der Ausstellung in den beiden Dekaden der 1990er und 2000er Jahre vertreten.“
Man kann es einen glücklichen Zufall nennen, dass die andere Ausstellung die Gegenposition besetzt. Mit ihrem Titel „Kunst und Kalter Krieg – Deutsche Positionen 1945-89“ wendet sie sich entschieden von der Meinung ab, die westdeutsche Kunst sei ideologiefrei gewesen. Schon in den 50er- und 60er-Jahren war mehrfach in Kunstdebatten die Ansicht vertreten worden, die sogenannte Nachkriegsmoderne sei den Deutschen im Zuge der politischen Umerziehung (re-education) aufgezwungen worden. Expressionismus und abstrakte Kunst seien Kampfmittel in der Ost-West-Konfrontation gewesen. Mit ihrem ausdrücklichen Bezug auf den Kalten Krieg ordnet die Ausstellung (und der sie begleitende Katalog) die nach 1945 entstandene Kunst dem Ost-West-Konflikt unter. Damit versucht sie, den Anspruch der Westkunst, autonom und freiheitlich zu sein – wie er in der Schau „60 Jahre – 60 Werke“ erhoben wird -, zu widerlegen.

Die Vorgeschichte

Über die deutsche Kunst seit 1945 bzw. seit 1949 kann man nicht reden, ohne an die Voraussetzungen zu denken, nämlich an die Nazi-Zeit mit ihrem Kunstdiktat und ihrer Verfolgung und Vernichtung der Werke der modernen Kunst. Künstler wurden mit Berufsverboten belegt und ins Exil getrieben, Kunstwerke wurden diffamiert und im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt. Allein das Erfurter Angermuseum verlor 1937 auf diese Weise 765 Zeichnungen, Gemälde, Grafiken und Plastiken. Für 12 Jahre wurden die Künstler, die expressiv, realistisch-kritisch, surrealistisch oder abstrakt arbeiteten, vom Ausstellungsbetrieb ebenso abgeschnitten wie von der internationalen Entwicklung. Stattdessen wurde ein platter, heldisch verklärter Realismus propagiert, dessen Werke sich zwischen Kitsch und Größenwahn bewegten. Ausgesondert, beschlagnahmt, zerstört und ins Ausland verkauft wurden Werke von Ernst-Ludwig Kirchner, Paul Klee, Otto Dix, Max Beckmann, Wassilij Kandinsky, Emil Nolde, Wilhelm Lehmbruck, Gerhard Marcks, Franz Marc, Lovis Corinth, Carl Hofer sowie natürlich von Pablo Picasso, Marc Chagall und Henri Matisse. Kurz, die Meister der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts waren komplett aus Deutschland vertrieben.
Die Kunst der 20er-Jahre hatte dokumentiert, dass das alte, idealisierende Menschenbild zerbrochen war. Die Nationalsozialisten bemühten sich, mit Hilfe der von ihnen geförderten Künstler hinter diese Lebens- und Kunsterfahrungen zurückzugehen. Ihnen kam bei entgegen, dass die Moderne, selbst der heute so beliebte Expressionismus, beim breiten Publikum noch nicht angekommen war. Die Moderne war längst nicht etabliert. Insofern gab es außerhalb der kleinen Kunstzirkel, die auf die Moderne setzten, keinen großen Widerstand gegen diese Politik.
Es ist oft darum gestritten worden, ob es nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Stunde Null gegeben habe. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gab es diese Stunde Null nicht. Es wurde vielfach, zwar mit Berufung auf die Zeit vor 1933, einfach weitergemacht – nicht selten sogar mit dem gleichen Personal. In der Kunst allerdings war so etwas wie eine Stunde Null notwendig. Es musste einen totalen Neuanfang geben. Dieser Neuanfang gründete für die meisten Künstler, Kritiker und Museumsleiter darin, dass man die Vorherrschaft der faschistischen Kunst mit ihrem Blut-und-Boden-Mythos und mit ihrem national verklärten Realismus sowie das Deutschtum abschütteln wollte und musste.
Diese Befreiung von der Nazi-Kunst führte dazu, dass erst einmal alle Formen der realistischen Kunst unter Generalverdacht gerieten. Selbst Künstler, die in den 20er- und 30er-Jahren im Zeichen der Neuen Sachlichkeit zu einem eigenen Stil gefunden hatten, fühlten sich verunsichert und wandten sich Spielarten abstrakter Kunst zu, in der sie aber nie eine wahre Heimat fanden. Der Druck auf die Realisten verschärfte sich, als sich abzeichnete, dass in der Sowjetischen Besatzungszone (ab 1949 DDR) nun der Sozialistische Realismus propagiert und durchgesetzt wurde. Zwischen diesen beiden Polen, Nazi-Kunst und Sozialistischer Realismus, die sich in der Grundstruktur so ähnlich waren, wurden die Realisten in Westdeutschland zerrieben beziehungsweise ins Abseits gedrängt. Die gegenständliche Kunst wurde zur Sackgasse erklärt. Von ihr seien keine neuen künstlerischen Impulse zu erwarten. Prominentestes Opfer dieser Entwicklung wurde Carl Hofer, der mit seiner stilisiert gegenständlichen und dabei düster-melancholischen Malerei erst von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert und dann nach dem Krieg als reaktionär bekämpft wurde.

Die Bonner Republik als Symbol der Abstrakten

Wir sind es gewohnt, den Künstler im romantisch-idealistischen Sinne als einen Einzelkämpfer zu sehen, der mit sich und der Form ringt und oftmals zu Lösungen gelangt, die er selbst nicht erahnte. Doch selbst die Einzelgänger unter den Künstlern können sich nicht freimachen, die Werke anderer und allgemeine Entwicklungen in der Kunst zu registrieren – Entwicklungen, zu denen sie sich verhalten müssen – zustimmend oder ablehnend. Dies galt verschärft 1945 nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes. Alle künstlerisch arbeitenden Menschen mussten sich neu orientieren – sie suchten Vorbilder und Anknüpfungspunkte bei den Expressionisten, Konstruktivisten und Surrealisten, aber auch bei den kritischen Realisten. Sie wollten gestalten, waren aber auch in gewisser Weise sprachlos – angesichts des Grauens, das sie überstanden hatten.
Da kam vielen entgegen, dass sich in der Zwischenzeit die abstrakte Kunst international zu einer eigenständigen Kraft entwickelt hatte. Sie schien eine logische Konsequenz der Ausformung der Moderne zu sein und war genau das Gegenteil jener nationalistisch verformten Kunst, die zwölf Jahre lang in Deutschland den Ton angegeben hatte. Die abstrakte Kunst entsprach genau dem Geist jener Zeit. Sie war in ihrem Wesen international und konnte überall verstanden werden. Die Überwindung und Zerstörung des traditionellen Bildes in der Abstraktion kam genau der Sprachlosigkeit entgegen, die viele erfasst hatte und die dem Gefühl entstanden war, nicht nur ein Staat und ein System seien zerbrochen, sondern auch das Wesen und Bild des Menschen und der Gesellschaft. So sahen sich etliche Künstler zurückgeworfen auf die Auseinandersetzung mit Formen und Farben, mit den Bruchstücken der Wirklichkeit und der Suche nach neuen Harmonien in der Gefühls- und Gedankenwelt sowie im Kosmos.
Die 50er-Jahre wurden zur Triumph-Zeit der abstrakten Kunst. Der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der an der Seite von Arnold Bode der Theoretiker und Propagandist der ersten drei documenta-Ausstellungen war, sah in der modernen, sprich: abstrakten, Kunst die Sprache einer neuen Weltkultur. Er und viele andere glaubten, allein die abstrakte Kunst habe eine Zukunft, hinter sie gebe es kein Zurück mehr. Es waren vor allem die zweite und dritte documenta (1959 und 1964), die diese Meinung spiegelten und deshalb Widerspruch herausforderten. Die abstrakte Kunst wurde zur Kunst der Freiheit erklärt und damit, obwohl im tiefsten Kern ohne inhaltliche Aussage, zum Kampfmittel der westlichen Ideologie erhoben. Kritiker, Galeristen, Museumsleiter, Sammler und Förderinstitutionen schlossen sich dieser Meinung an und verhalfen der abstrakten Kunst zum Siegeszug. Wer sich nicht auf diesen Weg begab, wurde isoliert – wie der Holzscheider HAP Grieshaber, der Maler Horst Antes oder der Zeichner Horst Janssen.
Frühzeitig wurden aus dieser Situation Verschwörungstheorien abgeleitet. Sie werden bis heute gern benutzt – bis in den Katalog „Kunst und Kalter Krieg“ hinein. Besonders beliebt war es, zu unterstellen, die als freiheitlich bezeichnete abstrakte Kunst habe exakt dem Geist der auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Gesellschaft entsprochen. Als Beleg dafür wurde genommen, dass der Kulturkreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) einer der frühesten und wichtigsten Förderer der abstrakten Kunst gewesen sei. (Wie wenig haltbar diese Theorien sind, ist beispielsweise daran ablesbar, dass Georg Baselitz, der erst Ende der 70er-Jahre breitere Anerkennung fand, bereits 1968 Stipendiat des BDI-Kulturkreises war.) Außerdem wurde der Erfolg der abstrakten Kunst als ein Ergebnis der Umerziehung der Deutschen durch die westlichen Siegermächte angesehen. In der Tat schickten vor allem die Amerikaner mit staatlicher Unterstützung, wie es heute zahlreiche europäische Länder tun, Ausstellungen mit Werken zeitgenössischer Kunst auf Auslandstourneen. Und weil die Planer der II. documenta weder Zeit, Kenntnis und Geld hatten, die Künstler in den USA selbst auszusuchen, wurde Porter McCray vom „International Program“ am Museum für Moderne Kunst in New York (Moma) gebeten, die Auswahl für die documenta vorzunehmen. Auf dem Boden dieser Tatsache entstand die Legende, bei der documenta von 1959 habe die CIA ihre Hand im Spiel gehabt.
Die abstrakte Kunst war erfolgreich, aber keineswegs populär. Moderne Künstler, allen voran Pablo Picasso, wurden als Scharlatane angesehen, die das Publikum für dumm verkauften. Insofern hatte die von den Nazis propagierte Kunstanschauung bis in die Bonner Republik Bestand. Kurios ist allerdings, dass trotz der breiten Ablehnung dieser Moderne deren gestalterische Erfindungen gerne übernommen wurden: Tapeten, Stoffmuster sowie Dekors auf Alltagsgegenständen sind in den 50er- und 60er-Jahren ohne die abstrakte Kunst nicht denkbar. Auch für die Ausgestaltung neuer oder wieder aufgebauter Kirchen hatte der Siegeszug der Abstrakten unmittelbare Folgen. In vielen Fällen mieden die Gestalter von Glasfenstern, Reliefs oder Wandbildern erzählende oder darstellende Motive. Sie zogen sich auf Farbvariationen und bestenfalls stilisierte Formen und Figuren zurück. Diese Modernität bewegte sich oft am Rand des Beliebigen und Unverbindlichen.

Die Wiederkehr der Figur

Der Bannfluch, der seit den 50er-Jahren auf den Künstlern liegt, die sich der traditionellen realistischen Darstellung verschrieben haben, ist bis heute wirksam. Nach der Wiedervereinigung landeten, so schien es, die westlichen Realisten in derselben Ablage des Kunstmarktes wie die Mehrzahl der DDR-Künstler. Das galt selbst für Zeichner und Maler, die dem Realismus ganz neue Seiten abgewonnen hatten. Deshalb begründeten die Realisten 1993 eine Realismus-Triennale, um sich auf dem Markt besser durchsetzen zu können. Doch die Triennale hatte keinen langfristigen Bestand.
Die Isolation der Realisten alter Schule ist umso erstaunlicher, als nämlich bereits in den 60er-Jahren der Herrschaftsanspruch der Abstrakten von vielen Seiten in Frage gestellt wurde. Die Pop-art, die in der 4. documenta (1968) ihren Triumph feierte, wandte sich ebenso gegen die abstrakte Kunst, wie es in Deutschland Konrad Klapheck, Georg Baselitz und Jörg Immendorff taten. Während die amerikanischen Pop-art-Künstler ihre Vorlagen in Filmbildern, Comics, Werbemotiven und Alltagsszenen fanden, schöpfte Immendorff aus der Agit-Prop-Kunst und entschied sich Baselitz für eine primitive Spielart des Expressionismus.
Überhaupt brachten die 60er-Jahre mit der Erweiterung des Kunstbegriffs sowie mit den neuen Medien (Foto, Film, Video) eine Umwälzung, die eine neue Erzählkultur in der Kunst zuließ. Auf Umwegen wurden neue Spielarten des Realismus möglich.

Anstöße, 2/2009 (Juli)

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