Auf der Suche nach neuen Maßstäben

Die Documenta 11 war das Ereignis des Kunstjahres 2002

Bei der Frage nach den wichtigsten Kultur-Institutionen in Hessen kam eine unabhängige Kommission zu der Antwort, dass die Kasseler documenta an die erste Stelle gesetzt werden müsse. Diese Bewertung ist angesichts der zahlreichen Bemühungen in Deutschland und darüber hinaus, Ausstellungen zu etablieren, die der documenta Konkurrenz machen könnten, beachtlich und ermutigend.

Die documenta ist international zur Institution geworden – aber nicht nur einfach deshalb, weil es sie seit fast 50 Jahren gibt oder weil sie von mal zu mal mehr Besucher anzog, sondern weil gerade die beiden jüngsten Ausstellungen zwei entscheidende Dinge leisteten: Catherine David und Okwui Enwezor trugen wesentlich dazu bei, die documenta aus der Kunstmarkt-Umklammerung und aus dem Zwang zur Novitätenschau herauszuholen. Außerdem gelang es Enwezor, mit der Documenta 11 endlich den europäischen Blickwinkel zu überwinden. Ein Zurück hinter diese globale Linie wird sich so schnell kein documenta-Leiter erlauben können.

Bis Anfang der 90er-Jahre war die Parole ausgegeben worden, dass die Kunst Afrikas und aus Teilen Lateinamerikas sowie Asiens mit der europäisch-amerikanischen Kunst nicht dialogfähig sei. Interessant ist, dass Enwezor und sein Team bei der Auswahl der Künstler die alte These indirekt bestätigt haben. Denn die afrikanischen Künstler wie Frédéric Bouabré, die ihre Bildwelten aus ihrer ureigenen kulturellen Tradition schaffen, blieben Ausnahmen in der Ausstellung. Die meisten afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Künstler waren wie Enwezor selbst Exilanten und kulturelle Grenzgänger Sie arbeiten
mit den Mitteln und Medien, die heute in der globalen Kunstsprache üblich sind.

Während Catherine David 1997 ihre documenta-Konzeption eher aus der Geschichte heraus entwickelt hatte und deshalb zahlreiche historische Positionen einbezog, fragte Enwezor danach, welche künstlerischen Haltungen heute prägend seien und welche Modelle zum Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Probleme angeboten würden.

Die überzeugendsten Antworten fand Enwezor in jenen Video- und Fotoarbeiten, die dokumentarische Techniken übernehmen, um mit deren Hilfe erzählerische Strukturen zu entwickeln, So wurde der harte Blick auf die Realität immer wieder um poetische Bilder erweitert. Nicht zufällig war die Video-Doppelprojektion von Shirin Neshat, in deren Mittelpunkt ein eingefriedeter Baum und eine alte Frau stehen, zur Lieblingsarbeit fast aller Besucher geworden.

Die Documenta 11 hat die gesellschaftliche Fundamentierung der Kunst gestärkt. Dass sie dabei einige Hauptwege verlassen oder vernachlässigt hat, ist wiederholt festgestellt worden. Trotzdem wurde vielfach übersehen, dass die Documenta 11 tatsächlich alle künstlerischen Positionen – von der radikalen Konzeptkunst eines Stanley Brown bis hin zur Theater-Aktionskunst eines John Bock – bereit hielt.

Die Wirkungen einer Ausstellung, die sich von den Gesetzen des Marktes löst, sind natürlich nicht so leicht auszumachen. Sicher ist nur, dass
die politisch-kritische Kunst nach der Documenta 11 wieder mehr Gewicht hat. Die Ausstellung hat aber auch die Erfahrung bestätigt, dass sich jede documenta neu positionieren muss.

Dass die Documenta 11 so über zeugen konnte, hatte wesentlich mit dem Zugewinn der ehemaligen Binding-Brauerei als Standort zu tun. Aber schon heute steht fest, dass das Gastspiel dort einmalig war. Damit setzt sich auch ein Teil de documenta-Geschichte fort – dass sich jede Ausstellung neue Räume suchen muss.
Eines ihre größten Probleme liegt im Erfolg. 650 000 Besucher hat die Documenta 11 angelockt – ein neuer Rekord. Aber es kann nicht bis in alle Zukunft gelten, dass jede Ausstellung mehr Besucher anzieht als die vorige. Denn in der Schlussphase der Documenta 11 wurden die Raumkapazitäten überschritten. Eine Ausstellung aber, deren Werke man nicht richtig wahrnehmen kann, verliert ihre Qualität.

Es ist dringend nötig, sich von der Fixierung auf die Zahlen und diese Mammut-Größe zu lösen. Es müsste auch ernst haft diskutiert werden, ob nicht überhaupt die nächst documenta finanziell und räumlich anders, möglicherweise kleiner zugeschnitten werden sollte.

HNA 19. 12. 2002

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