Okwui Enwezor und sein Team ziehen Bilanz
Für einen kleinen Moment musste Okwui Enwezor um Fassung ringen. Der Gedanke, das Werk geschafft zu haben, die Gewissheit, in einem Team gearbeitet zu haben, das sich nicht zerstritt, sondern eher zusammenwuchs, und die überwältigende Resonanz ließen in ihm jene süße Traurigkeit aufsteigen, von der sein Team-Kollege Sarat Maharaj gesprochen hatte. Enwezor wollte in diesem Sinne nicht gerührt sein, aber dann packten ihn die Gefühle doch. Eine Sekunde später hatte er sich wieder im Griff und lächelte verbindlich.
Die Abschlusspressekonferenz des Teams der Documenta 11 im Bali-Kino im Kasseler Kulturbahnhof wurde zur großen Abschiedssinfonie, in der nach allen Seiten Dankesworte und Komplimente ausgeteilt wurden. Aber in die Freude und die Erleichterung über das Erreichte und in die Trauer über das Ende mischen sich auch überraschend ernsthafte und nachdenkliche Worte. Okwui Enwezor setzte sich mit der Kritik auseinander, die die documenta als das immer gleiche Kunstereignis erwartet und die nicht akzeptieren will, dass es nicht nur eine Sichtweise gibt.
Tief getroffen haben muss ihn die Tatsache, dass er in einzelnen Berichten und Kritiken stets als Nicht-Europäer und Nicht-Weißer tituliert worden ist. Ich existiere nicht in Abwesenheit, ich bin Nigerianer, sagte er in Richtung auf die Menschen, die so reden und schreiben.
Zu der Pressekonferenz waren auch Enwezors Teamkollegen Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sarat Maharaj und Mark Nash gekommen. Lediglich Octavio Zaya fehlte auf dem Podium. Alle Kuratoren sprachen von dem Gewinn, den die Mitarbeit an der Documenta 11 für sie bedeute. Außerdem unterstrichen sie, dass die Auseinandersetzung mit den Themen und mit dieser Kunst weitergehen müsse, Mark Nash formulierte das so: Jetzt beginnt die Documenta 11 ihr zweites Leben.
Die Kuratoren bekräftigten auch die Entscheidung für das Konzept, das nach Enwezors Worten gemeinsam erarbeitet worden ist. Es sei richtig gewesen,
so Ute Meta Bauer, Position zu beziehen. Und Sarat Maharaj betonte die ethische Haltung, die die Documenta 11 eingenommen habe. Aus seiner Sicht gehört zum Künstlertum, auf die Welt und ihre Probleme zu reagieren.
Okwui Enwezor, der sich am Tag zuvor schon in einem Offenen Brief bei den Kasseler Bürgern bedankt hatte, servierte nochmals Komplimente für die Gastgeberstadt: Ihm sei Kassel als fürchterlich, langweilig und öde geschildert worden. Das alles sei falsch. Die Stadt sei liebenswürdig und weltoffen. Die Documenta 11 in Kassel organisiert zu haben, sei ein unglaubliches Erlebnis.
Zur positiven Bilanz des Teams gehören auch die guten Werte, die eine Besucherbefragung des Kasseler Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Gerd-Michael Hellstem ergeben hat. Noch ist die zweite Stufe der Befragung nicht zu Ende geführt. Aber die Tendenz ist nach Darstellung der Ausstellungsleitung klar: Zwei Drittel der Besucher haben die Documenta 11 mit der Note gut beziehungsweise sehr gut bewertet. Als erfreulich wird auch das Interesse ausländischer Kunstliebhaber bezeichnet: 28 Prozent der Besucher kommen der Befragung zufolge aus dem Ausland.
Noch nicht völlig zu übersehen ist, welche Wirkungen die Internet-Präsentation der Documenta 11 hat. Dass das Interesse daran groß ist, kann aber schon jetzt festgestellt werden. Da die Documenta 11 alle 230 Vorträge der Plattformen 1-4 als abrufbare Videos ins Netz gestellt hat, stehen Interessierten rund 3500 Seiten mit über 1500 Abbildungen zur Verfügung. Während der Ausstellungsmonate wurden etwa 8,2 Millionen Seitenaufrufe registriert. Diese Zahlen ergänzen die üppige Pressebilanz: Seit der Ernennung Okwui Enwezors zum künstlerischen Leiter sind über 15 000 Berichte erschienen.
Im Internet ist die Documenta 11 unter www.documenta.de zu finden. Die Berichte unserer Zeitung zu der Ausstellung sind über www.hna.de abrufbar.
HNA 15. 9. 2002
Kommentar
Die Welt ist mit Hilfe der Kunst nicht aus den Angeln zu haben. Dass aber dank der Kunst neue Blicke auf die Welt möglich sind, ist während der vergangenen l00 Tage in Kassel bewiesen worden.
Das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der Documenta 11, dass sich in ihr nicht die Kunst um sich selbst drehte, sondern dass die Werke Probleme der Wirklichkeit ins Blickfeld holten. Diese Herausforderung ist von weiten Teilen der Besucher und der Kritik angenommen worden. Ausstellungen wie die Documenta 11 werden gebraucht.
Dass die Ausstellung dabei auch noch die Besucherzahl steigern konnte, ist ein positiver Nebeneffekt; nur wird dadurch das Konzept nicht richtiger. Überhaupt ist es unsinnig, die Abstimmung mit den Füßen zum Gradmesser einer Ausstellung zu machen. Entscheidender ist, dass die documenta ihre Position als das Forum für zeitgenössische Kunst festigen konnte. An der Auseinandersetzung mit ihr kommt keiner vorbei.