Ein Aufbruch zu neuen Ufern

Mit der Berufung von Catherme David zur Leiterin der documenta 10(1997) begibt sich die Kasseler Ausstellung in mehrfacher Hinsicht auf Neuland.

Als im Blick auf die nächste documenta die ersten Kandidaten ins Gespräch gebracht wurden, waren es vornehmlich die vertrauten Namen – wie Ha-
rald Szeernann, Kasper König oder Germano Celant. Alle drei haben bewiesen, daß sie Großausstellungen organisieren und inszenieren können. Ihre Namen stehen für Qualität, sie stehen aber auch für die Ausstellungskonzepte der 70er und 80er Jahre.

Natürlich wäre es spannend gewesen, am Ende des Jahrhunderts aus der Perspektive der langjährigen Erfahrung eine Kunstbilanz zu erleben. Doch spätestens in den 60er-Jahren ist die documenta zu einer Arena des Experiments und des Wagemuts geworden, zu dem Ort, an dem von nachwachsenden Künstlergenerationen ungewohnte Sehweisen erprobt werden. Also sprach viel dafür, auch in der künstlerischen Leitung den Generationswechsel zu vollziehen. Schließlich waren Szeemann und Rudi Fuchs selbst um die 40, als sie jeweils ihre documenta leiteten.

Die 40-jährige Catharine David entspricht nicht nur in dieser Beziehung den Wunschvorstellungen. Ihre Berufung erfüllt zudem die immer lauter gewordene Forderung, nun müsse mal eine Frau die künstlerische Leitung der documenta übernehmen. Zum Glück verhinderte die paritätische Besetzung der Findungskommission eine Entscheidung aus Verlegenheit oder schlechtem Gewissen. Die Runde aus vier Frauen und vier Männern war frei für den Blick auf die Persönlichkeit. So zählt das Votum doppelt.

International noch wichtiger aber dürfte der dritte Faktor sein: Erstmals wird bei der Auswahl der künstlerischen Leitung der Radius noch weiter gezogen. Wohl waren die Mitarbeiterstäbe der documenta immer international besetzt gewesen, doch bei der Leitungsposition hatte man nie zuvor über den niederländisch-flämischen und schweizerischen Raum hinausgegriffen. Nun tritt erstmals eine Frau an, deren Muttersprache Französisch ist (Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Italienisch beherrscht sie auch) und die aus der Stadt kommt, die über Jahrzehnte das Kunstzentrum der Moderne war und die im Vergleich zu Kassel immer noch das Zentrum für Kunst ist. Die Berufung von Catherine David festigt erst einmal international die Stellung der documenta als der Weltausstellung für Gegenwartskunst – ganz gleich, wie die Französin mit der ihr gestellten Aufgabe fertig wird. Zudem wird gewährleistet, daß der Blick auf die Kunst weltoffen bleibt.

Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein Aufbruch zu neuen Ufern, den die documenta 10 unternimmt. Wenn dies nicht nur – im Sinne des Zeitgeistes – günstige Startfaktoren sind, sondern Bausteine zu einem Erfolg werden, könnte die nächste documenta auch die Frage erübrigen, ob die Kasseler Ausstellung auch nach der Jahrtausendwende noch eine Existenzberechtigung habe.

Die Findungskommission rühmt an Catherine David deren vielfältige Offenheit – gegenüber den verschiedenen künstlerischen und erzählerischen Medien sowie den anderen Kulturen. Ob und in welcher Form sich das in der Konzeption der nächsten documenta niederschlagen wird, bleibt abzuwarten.

Erst einmal muß die neue documenta-Chefin ihre Berufung selbst verarbeiten und zur Besinnung kommen. Ihr Urteil jedoch, von den drei documenten, die sie gesehen hat, sei die von Rudi Fuchs (1982) die beste gewesen, spricht dafür, daß sie auch viel von einer musealen Ausstellungsform hält.

HNA 14. 3. 1994

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