Die Gegenwart immer im Blick

Im Sommer wird die Stadt mit einer Veranstaltungsreihe sowie mehreren Publikationen daran erinnern, daß vor 40 Jahren die erste documenta zu sehen war und damit Kassel mit einem Schlag in den Blickpunkt der internationalen Kunstwelt rückte. Gerade rechtzeitig zum Jubiläum erschien jetzt der Band „documenta 1955 – Eine Ausstellung im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um die Kunst der Avantgarde 1945—1980“ von Ulrike Wollenhaupt-Schmidt.

Grundlage der Veröffentlichung ist eine 1992 an der Göttinger Universität angenommene Dissertation. Ulrike Wollenhaupt-Schmidt konzentriert sich in ihrer Arbeit
auf drei Aspekte: Sie untersucht die Voraussetzungen der ersten documenta, die Planung und Inszenierung der Ausstellung und den kunstpolitischen Hintergrund, vor dem sie stattfand. Die Autorin hat viele Quellen erschlossen und umfangreiches Material zur Kunstdiskussion in jener Zeit zusammengetragen. Die documenta von 1955 wird nicht aus heutiger Sicht betrachtet, sondern aus ihrer Zeit heraus.

Diese an den zeitgenössischen Quellen ausgerichtete Sichtweise führt die Kunsthistorikerin zu zwei wesentlichen Thesen: Obwohl die documenta
von 1955 die ungegenständliche Kunst feierte, war diese zu dieser Zeit keineswegs allgemein akzeptiert; die documenta habe sich also eher in einer defensiven Position befunden. Außerdem habe die erste documenta nicht bloß die moderne Kunst der Vorkriegszeit aufgearbeitet; sie habe von Anfang an die Gegenwart im Blick gehabt. Anhand von Zahlenmaterial kann die Verfasserin belegen, daß die Ausstellung von den Pionieren des Jahrhundertbeginns zur aktuellen Szene geführt und der Schwerpunkt bei den nach dem Krieg entstandenen Werken gelegen hat. Damit wird die übliche Bewertung revidiert, die erste documenta sei vornehmlich historisch ausgerichtet gewesen.

Einen vielleicht etwas zu breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung um die Kunst der Moderne ein, die 1948 durch Hans Sedlmayrs Buch „Verlust der Mitte“ forciert wurde. Die Zitate führen in erschreckender Weise vor, wie bruchlos die von den Nationalsozialisten entwickelte Argumentationskette bei Sedlmayr vor einem ganz anderen weltanschaulichen Hintergrund wieder auftaucht.

Bei der Untersuchung der Frage, ob es für die documenta Vorbilder gegeben habe, kommt allerdings der Hinweis auf die Orangerie-Ausstellungen in den 20er Jahren zu knapp weg. An diesen Ausstellungen war der junge Maler Arnold Bode nicht nur als Künstler beteiligt, 1929 war er sogar mit anderen für die Auswahl der „Neuen Kunst“ zuständig.

Wohl waren die Orangerie Ausstellungen auf die deutsch und hessische Szene beschränkt, aber in ihnen waren maßgebliche Künstler der Moderne gut vertreten – so unter anderem Josef Albers, Will Baumeister, Lyonel Feininger Bruno Goller, George Grosz, Erich Heckel, Wassily Kandinsky, Ewald Mataré, Otto Mueller, Felix Nussbaum und Oskar Schlemmer. Auch die breit angelegte Organisationsstruktur war den ersten documenta ähnlich. Und schließlich war die Laufzeit vom 1. Juni bis September 1929 eine klare Vorgabe für Bodes späteres „Museum der 100 Tage“.

Ulrike Wollenhaupt-Schmidt: documenta 1955. Europäische Hochschulschriften. Peter Lang Verlag, Frankfurt. 338 Seiten
95,- DM.

HNA 25. 2. 1995

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