Als die Weltkunst in die Provinz kam

Vor 40 Jahren, am 15. Juli 1955, wurde in Kassel die erste documenta eröffnet. Die Ausstellung wurde
zur internationalen Institution. Grund genug, um zurückzublicken.

Der jüngste Konflikt in der documenta-Leitung ist gerade erst überstanden: Catherine David, die für 1997 die zehnte documenta künstlerisch vorbereiten soll, lag mit ihrem Geschäftsführer Roman Soukup im Streit. Soukup mußte das Feld räumen. Damit war eine recht alte Tradition wieder aufgelebt. Der öffentliche Streit gehört offenbar zum docurnenta-Geschäft. Ohne Mühe könnte man eine vielseitige Geschichte des Streits um Konzepte und Personen schreiben, die mit spektakulären Austritten nach der documenta 3 (1964) aus den Führungsgremien begann und die ihre Höhepunkte erreichte, als zweimal Manfred Schneckenburger als künstlerischer Leiter einspringen mußte (durfte), weil sich vor ihm andere nicht auf Konzepte einigen konnten.

Aber diese Geschichte, so spannend sie auch sein mag, soll hier nicht nacherzählt werden, weil sie nicht an die Grundfrage heranführt: Wieso konnte sich denn gerade in Kassel eine Weltkunstausstellung auf Jahrzehnte etablieren – eine Ausstellung, die bei aller geäußerten Kritik zuletzt die Biennale von Venedig regelmäßig in den Schatten stellte?

Wie konnte es also passieren, daß eines Tages die Kunst aus den Metropolen in die Provinz kam und sich dort einen solchen Platz eroberte, daß alle vier bis fünf Jahre die Kunstjünger aus aller Welt nach Kassel pilgern müssen? Die naheliegendsten Erklärungen sind sattsam bekannt: Dem Künstler und Akademie-Professor Arnold Bode und seinen Freunden gelang es, die 1955 für Kassel geplante Bundesgartenschau als Initialzündung für ihre Ausstellungsidee zu nutzen. Ihr Gedanke war einfach: Um den nach Kassel kommenden Gästen mehr als Gärten und Blumen bieten zu können, müsse man eine Kunstschau organisieren. Dabei lag nahe, mit
der Ausstellung den Anschluß an die internationale Kunstentwicklung herzustellen, die an den Deutschen aufgrund der einseitigen Kunstpolitik der Nationalsozialisten vorbeigegangen war.

Daß das Land Hessen und die Bundesregierung zur Förderung des Ausstellungsprojektes bereit waren, hatte mit der speziellen Kasseler Situation zu tun: Die Stadt war im Krieg – wegen der dort ansässigen Rüstungsindustrie – schwer zerstört worden, und der Neuaufbau hatte dort später als anderswo begonnen. Durch die unmittelbare Nähe zur Grenze, die Deutschland durchschnitt, hatte Kassel zudem so etwas wie Frontstadtcharakter. Die Ausstellungsplanung kam also dem Kalkül der Politiker entgegen, die ein Zeichen Richtung Osten setzen wollten. Kassel wurde zum Vorposten der modernen, westlichen Kunst.

Diese Erklärungen sind richtig, sie bergen aber noch nicht die ganze Wahrheit. Der Künstler und Akademie-Professor Arnold Bode verstand es eben, die Gunst der Stunde zunutzen. Doch es war keineswegs so, daß ihm die documenta-Idee erst im Zusammenhang mit der Gartenschau-Planung kam. Vielmehr trug er den Gedanken an eine umfassende Kunstschau der Moderne lange mit sich herum. Er brauchte ja nur an eine Tradition anzuknüpfen, in die er selbst als junger Künst1er eingebunden gewesen war:

In den 20er Jahren hatte es mehrfach in der Orangerie der Fulda-Stadt große Kunst-Ausstellungen gegeben. An drei dieser Ausstellungen war Bode beteiligt und bei der 1929 gezeigten „Neue Kunst in der Orangerie“ saß er sogar in der Auswahlkommission für das Zeitgenössische. Gewiß, diese Ausstellung konnte kein nationales oder gar internationales Echo hervorrufen, im Nachhinein wirkt sie aber wie ein Probelauf für Größeres: Der Zeitraum umfaßte ebenso wie später bei der documenta die drei Sommermonate (1. Juni bis 1. September) und ihr standen mehrere Kommissionen zur Seite. Noch entscheidender aber ist, daß 1929 in der Kasseler Orangerie (ähnlich wie schon 1927) eigentlich die ganze deutsche Moderne vertreten war, die
auch das Bild der beiden ersten Nachkriegsdocumenten mit prägen sollte: Josef Albers, Willi Baumeister, Lyonel Feininger, Werner Gilles, George Grosz, Erich Heckel, Karl Hofer, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Gerhard Marcks, Ewald Mataré, Otto Pankok, Oskar Schlemmer…

Arnold Bode brauchte also nur, angestachelt durch die Zwangspause der Nazi-Zeit und motiviert durch die Bundesgartenschau, seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen wieder aufzugreifen und über den deutschen Bezugsrahmen hinauszugehen. Auch das war naheliegend – weil zum einen die deutsche Moderne ohne die internationalen Bezüge nicht denkbar ist und zudem zu jener Zeit alles kulturpolitisch opportun schien, was auf übernationale
und speziell europäische Zusammenhänge setzte. So wurde auch die erste documenta in ihren Konzepten anfangs als „europäische Kunstausstellung“ propagiert. Tatsächlich blieb die Kunstschau nahezu ausschließlich auf die europäische Kunst der Moderne begrenzt. Erst später wurden Amerika und andere Kontinente einbezogen.

Daß die Bundesgartenschau für Bode tatsächlich nur ein Vehikel war und er beider Vorplanung schon viel weiter dachte, dokumentiert ein ganz früher Konzeptentwurf von 1954: Bereits da wurde vorgeschlagen, die Ausstellung im vieijährigen Rhythmus weiterzuführen. Zu jenem Zeitpunkt meinten die documenta-Planer allerdings, die Kunstschau mit Gemälden würde den Kern bilden, um den herum sich Überblicke über die Plastik, die Architektur und das Bühnenbild gruppieren sollten. Auch glaubte man, mit der Ausstellung alle künstlerischen Ebenen (Theater, Literatur, Film, Musik) aktivieren zu können. Damit war damals etwas angedacht worden, was heute, 40 Jahre später, Cathenne David für die documenta 10 vor Augen schwebt. Sie will allerdings nicht ein Festival aller Künste, sondern möchte berücksichtigen, daß heute viele Künstler ihre Vorstellungen nicht mehr in Bildern und Skulpturen verwirklichen, sondern mit den Mitteln des Films, der Sprache und des Theaters arbeiten. Damals, 1955, wurde nichts aus dem spartenübergreifenden Festival. Die documenta wurde zur vielbeachteten Kunstschau mit kleinen Beiprogrammen.

Allgemein gilt die Einschätzung, die erste documenta habe die Kunst aus der Zeit vor 1945 aufgearbeitet. Doch auch das stimmt nicht ganz. Als Arnold Bode und seine Mitstreiter an die Vorplanung gingen, setzten sie sich ein unmißverständliches Ziel: „Es sind etwa 300 Bilder vorgesehen, die allein unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Qualität auszuwählen sind, denn sie sollen Auskunft geben, welche Werke bzw. künstlerische Gesinnungen die Grundlage bilden für den Begriff „Kunst der Gegenwart in Europa“. Bode war Künstler und nicht Kunsthistoriker. Ihm ging es um die gegenwärtige Kunst, deren freie Sprache er
legitimieren wollte durch die Pioniere der Moderne. In ihrer Untersuchung der ersten documenta hat denn auch Ulrike Wollenhaupt-Schmidt nachweisen können, daß der Schwerpunkt der Kunstschau eindeutig bei der Nachkriegskunst lag.

Die erste documenta hat viel geleistet. Sie vermochte, den Zusammenhang zwischen den Anfängen der Moderne und der Gegenwart herzustellen und war insofern auch parteiisch. Sie adelte das damals nur provisorisch von einer Ruine zum Ausstellungshaus umgebaute Museum Fridericianum, das seitdem Herz und Symbol der documenta ist. Und sie setzte dank Bodes Regie die Ausstellungsinszenierung als Stilprinzip durch. Bodes gekonntes Arrangement mit schwarzen und milchfarbenen Plastikvorhängen machte Geschichte.
Die erste documenta präsentierte 670 Werke von 148 Künstlern aus sechs Nationen. Sie zog 130 000 Besucher an und kostete 379 000 Mark. Heute rechnet man mit rund 500 000 Besuchern und Gesamtaufwendungen von 20 Millionen Mark.

HNA 14. 7. 1995

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