Der Blick zurück ist mit Wehmut verbunden, weil man in der erlebten Vergangenheit einem Stück der eigenen verlorenen Jugend begegnet. Also wird, je länger etwas zurückliegt, das erinnerte Ereignis umso wunderbarer. So ergeht es auch im Verhältnis zur Kasseler documenta 1, die in der Kunstwelt als ein Meilenstein gilt. Immerhin bot sie, zehn Jahre nach Kriegsende, den ersten umfassenden Überblick über die Kunst der Moderne.
Wir, denen heute die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts präsent ist, können uns schwerlich vorstellen, was die documenta damals bedeutete. Die Kasseler Kunstschau versammelte ja nicht bloß Bilder und Skulpturen, die wir als Meisterwerke einstufen, sondern sie propagierte zugleich einen Geist der Moderne, der damals noch höchst umstritten war. Die eigentliche Leistung der Ausstellung lag damals im Konzept, das heißt in der Zusammenstellung der Werke, und außerdem in der Inszenierung. Jetzt kann jeder, der will, diese Leistung nachvollziehen – dank des Buches documenta 1955, das Harald Kimpel und Karin Stengel herausgegeben haben. Die Autoren setzen auf die Kraft der Fotos, die zeigen, wie die Bilder gehängt und die Skulpturen aufgestellt waren.
Es ist ein spannendes Zeitdokument. Arnold Bode, der Begründer der documenta, spiegelt sich in diesen Fotos als der Übervater der Kunst – er verhalf den Werken zu ihrer Wirkung. Dankeswerterweise haben sich die Autoren zurückgehalten. Sie lassen in den Texten, die die Bilder begleiten, die Zeitzeugen, die Kritiker von 1955, sprechen. So wird das Bild, das sich ergibt, doppelt authentisch.
Genauso wichtig wie dieser dokumentarische Band ist der Nachdruck des legendären Kataloges der ersten documenta. Nun endlich können diejenigen, die damals keinen Katalog bekommen konnten, aus eigener Anschauung nachvollziehen, was 1955 geboten wurde. Überraschend ist, daß diese Ausstellung, die als das große deutsche Schlüsselerlebnis gilt, auch erstaunlich viele Arbeiten enthielt, von denen heute niemand mehr redet. Die Auswahl war also menschlich und anfechtbar – wie bei späteren documenten ebenfalls.
Der Katalog der documenta 1 wirkt sympathisch, weil er im Format und Umfang bescheiden bleibt und sich in den Dienst der zentralen Arbeiten stellt. Zusammen mit dem Dokumentationsband von der Ausstellung ermöglicht er intensivste Erinnerungsarbeit.
Noch ein drittes Buch ist zur documenta erschienen – das Künstlerverzeichnis der documenta IX (1992). Zur documenta 8 hatte das documenta-Archiv ein Künstlerverzeichnis der ersten acht Ausstellungen herausgebracht. Die Fortschreibung ist etwas anspruchsvoller ausgefallen. Auch wurde es mit einem Text versehen, in dem sich Jan Hoet zu seiner documenta äußert.
documenta 1955. Erste internationale Kunstaussteuung eine fotografische Rekonstruktion. Edition Temmen, Bremen. 160 Seiten, 90 Abb., 45 DM.
Reprint des Kataloges zur documnta 1955, Prstel Verlag, München, 228 Seiten, 156 Abbildungen, 39 DM.
Künstlerindex zur documenta IX, mit einem Text von Jan Hoet, Edition Cantz, Stuttgart, 64 Seiten, 16,80 DM.
HNA 27. 8. 1995