Für die Masse oder eine Minderheit?

Um auszuloten, was Kunst heute sei, war documenta-Leiterin Catherine David zu einer Diskussion mit Künstlern nach Wien gekommen. Es gab mehr Fragen als Antworten.

Von Anfang an hatte Catherine David klar gemacht, daß ihre documenta X (1997) entschieden anders als die ihres Vorgängers Jan Hoet werden solle: Kein großer Jahrmarkt, sondern eine Schau, in der auf ästhetische Weise zu erleben sein solle, wie Künstler heute ihre Erlebnisse und Erfahrungen umsetzen. Die Ablehnung von Hoets documenta scheint nahezu in allen Äußerungen der Französin auf. In der Tat hat sie eine völlig andere Herangehensweise an die Kunst, zumal sie weit über die traditionellen Bildwelten hinausblickt. Trotzdem ist die Art, wie sie sich und die Öffentlichkeit auf ihre Ausstellung vorbereitet, der von Hoet sehr verwandt. Auch sie kreist auf weit gezogenen Bögen ihr Konzept allmählich ein. Während Hoet die Kunstwelt damit irritierte, daß er Tausende Dias vorführte und Künstlernamen nannte, um das Chaos sichtbar zu machen, aus dem er die Ausstellung herausdestillieren müsse, beschreibt Catherine David den Zustand der Welt und ihrer Kulturen, um ihre Fragen abzuleiten. In beiden Fällen ging und geht es um die gedankliche Absicherung der Konzeptüberlegung.

Auch Jan Hoet hatte das halböffentliche Gespräch mit den Künstlern gesucht. Daß der inhaltliche Ertrag gering war, wurde schnell vergessen. Die Künstler sind eben überwiegend selbstbezogen und an den übergreifenden Fragestellungen der Ausstellungsmacher nicht interessiert. Catherine David ging es jetzt in ihrem ersten öffentlichen Gespräch im Österreichischen Museum für Angewandte Kunst (MAK) in Wien nicht besser.

Die Künstler Franz West und Peter Kogler (beide an Jan Hoets documenta beteiligt) sowie Elke Krystofek und Gerwald Rockenschaub ließen sich auf die Fragen nur halbherzig oder gar nicht ein. Zweitweise nahm die Diskussion die Gestalt eines Happenings an – etwa wenn Elke Krystofek, statt eine Antwort zu geben, Atemübungen zur Stabilisierung ihrer Psyche machte, oder wenn Franz West in einem Kauderweisch aus Englischbrocken und Wienerisch Catherine David darauf festzulegen versuchte, daß sie die Kunst der technischen Medien bevorzuge. Das Sprachliche war bei der Veranstaltung das größte Problem,
weil die meisten Englisch nur unzureichend beherrschten und so Begriffe nicht geklärt werden konnten.

Gut an diesen Verweigerungsübungen war, daß sie genau das bestätigten, was die documenta-Leiterin zuvor über die österreichische Kunst gesagt hatte. Sie war nämlich von Diskussionsleiter Robert Fleck gefragt worden, ob sie die dortige Kunstszene als besonders symptomatisch empfinde, da sie nun schon zum dritten Mal in die A1penrepublik zu Austellungs- und Atelierbesuchen gekommen sein. Für Catherine David ist Osterreich tatsächlich faszinierend, weil dort das Spannungsverhältnis zwischen lokaler und internationaler Kunst besonders ausgeprägt sei. Als noch stärker empfindet sie aber einen anderen Gegensatz – den zwischen völlig selbstgefangener (autistischer) und gesellschaftlich ausgerichteter Kunst.

Der behauptete Autismus wurde gleich praktisch ausgelebt. So kam es denn, daß entgegen der Vorankündigung doch die Kasseler documenta zum Hauptthema wurde. Dabei nahm Catherine David die Behauptung, die documenta sei in der Krise, gerne auf. Allerdings verstand sie dieses Wort nicht so, wie es von denen eingesetzt wird, die ihr – auch welchen Gründen auch immer — die Bewältigung der großen Aufgabe nicht zutrauen. Nein, da hätten sie und ihre Umgebung keine Zweifel. Im. Gegenteil: Es sei ganz leicht, innerhalb kürzester Zeit eine „populäre“ documenta zu machen. Doch dergleichen wäre kontraproduktiv für die Kunst, meinte sie in dem Wiener Gespräch. Die documenta sei doch deshalb in der Krise, weil der Ausstellungsbetrieb und die Kunst selbst in die
Krise geraten seien.
Da Kunst oft nur als Unterhaltungsmittel verstanden werde oder etwas, von dem ständig Neues erwartet werde, müsse man nach den Formen der Kunst suchen, die andere Bilder und Ausdrucksmittel benutzen als die im Alltag gebräuchliche Kommunikation. Der Künstler Gerwald Rockenschaub stellte schließlich die Frage, ob wir wirklich eine documenta brauchten. Catherine Davids Antwort war unmißverständlich: Eine documenta als eine bloße Massenveranstaltung, in der Kunst nur als Spaß begriffen werde, brauchten wir nicht. Gebraucht werde vielmehr eine Ausstellung, die jener Kunst Raum gebe, die kulturelle Haltungen und Positionen ästhetisch eindringlich und verständlich mache. Dies sei aber eher die Sache einer Minderheit als für Besuchermassen.

Entschieden lehnte sie Anforderungen ab, die documenta X zu einem Ort zu machen, an dem auch erstmals repräsentativ die Ostkunst gezeigt werde:
Die documenta sei kein Forum für politische Ersatzhandlungen. Natürlich würden auch Künstler aus Osteuropa möglicherweise berücksichtigt, Aber die Kasseler Ausstellung habe sich nicht darum zu kümmern, ob alle Länder und Erdteile ausreichend vertreten seien. Ebenso entschieden reagierte sie auf die Frage nach der Kunst der Dritten Welt. Brasilien etwa, das als Teil der Dritten Welt behandelt werde, habe in der Kunst eine lange Tradition der Moderne. Man dürfe auch nicht länger mit kolonialistischen Haltungen der Kunst in Afrika und Lateinamerika begegnen.

HNA 25. 11. 1995

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