Jetzt fehlt nur noch das „Schaudergrauen“

Selbst die Besucher, die mittlerweile die Documenta 11 gut kennen, werden die Veränderungen in der Installation von Ecke Bonk kaum wahrnehmen: In dem Raum, in dem Bonk die erschienenen 428 Teilausgaben (Lieferungen) zum Deutschen Wörterbuch zeigt, waren bislang drei Rahmen leer geblieben. Gestern nun konnten zwei Leerstellen gefüllt werden. Bei seiner Suche nach den seit 1838 herausgegebenen Teilausgaben war Bonk vor kurzem ein weiteres Mal erfolgreich und fand die 32. Lieferung von 1868, in der die Wörter mit dem Anfangsbuchstaben H bis zu dem Begriff „Halmenjungfrau“ erläutert werden.

Damit fehlt von den zwischen 1838 und 1961 gedruckten 380 Teilausgaben des Deutschen Wörterbuchs nur noch die 113. Lieferung, in der die Wörter „Schaudergrauen“ bis „schellen“ erläutert werden.

Das von Jacob und Wilhelm Grimm 1838 in Kassel begründete Deutsche Wörterbuch ist ein Mammutwerk. Jedes der nahezu 300 000 Stichwörter wird nicht nur erklärt, sondern durch Textstellen aus der Literatur belegt. Diese intensive Arbeit führte dazu, dass die Grimms selbst nur bis zum Buchstaben F vordrangen. Es musste nahezu ein Jahrhundert vergehen, bis es von nachfolgenden Sprachforscher-Generationen vollendet werden konnte.

Da der Teil des Wörterbuchs, der nach den Grimms erarbeitet wurde, nach anderen Prinzipien gestaltet ist als das ursprüngliche Werk, entschied man sich, 1965 eine überarbeitete Fassung der Teilausgaben von A bis F erscheinen zu lassen. Diese Neubearbeitung soll etwa 2005 abgeschlossen werden. Vor wenigen Tagen erschien nun im Stuttgarter Hirzel Verlag, der seit 150 Jahren das Deutsche Wörterbuch betreut, die 428. Lieferung mit den Begriffen „Auffassen – Aufpfeifen“. Diese druckfrische Ausgabe wurde gestern von Bonk ebenfalls hinzugefügt.

Keine zweite Arbeit der Documenta 11 hat einen so unmittelbaren Bezug zu dem Ort: Dort, wo Bonks Installation zu sehen ist, befand sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bibliothek, in der Jacob und Wilhelm Grimm als Forscher tätig waren und die Grundlagen für ihre Arbeit an dem Deutschen Wörterbuch schufen. Sowohl die bildhafte Präsentation der insgesamt 428 Teilausgaben als auch die Projektion der Textauszüge im Nachbarraum lassen die Dimensionen des Sprachschatzes und der Zeit sichtbar werden.

Zur Erinnerung: Auf drei Wänden werden rund um die Uhr einzelne Textabschnitte projiziert. Wenn am Ende der Documenta 11 die Projektion genau 2400 Stunden lang gelaufen sein wird, wird annähernd ein Drittel des Wörterbuch-Inhalts zu lesen gewesen sein. So ist Bonks Beitrag Wissensquelle und ästhetisches Abenteuer zugleich.

Noch ist noch nicht entschieden, was mit der Arbeit nach der Documenta 11 passiert. Es gibt erste Anfragen im Zusammenhang mit Ausstellungsprojekten. Es wird aber zu entscheiden sein, wo die Arbeit dauerhaft bleibt. Ecke Bonk selbst wäre daran interessiert, in Kassel für sie einen Ort zu finden. Hier kam ihm 1999 die Idee zu dem Projekt, und in Kassel wurden auch die Grundlagen für das Wörterbuch gelegt. Dabei muss der Ausstellungsort nicht zwangsläufig ein (Kunst)museum sein. Allerdings gibt es bisher weder von der Stadt noch von den Kultureinrichtungen entsprechende Signale.

HNA 6. 9. 2002

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