Zwischen Nähe und Ferne

Die Dinge und ihre Erscheinungsweise ändern sich mit der Distanz, die man zu ihnen hat. Eine alltägliche Erfahrung. Der Schweizer Markus Raetz (Jahrgang 1941) spielt mit ihr. Viele seiner Arbeiten beziehen einen Teil ihrer Spannung daraus, daß sie aus der Nähe ganz anders erscheinen, als sie aus der Ferne wirken. Häufig löst sich die Bildinformation, die man aus großem Abstand zu erkennen glaubt, beim Näherherantreten (das sonst ja dem genaueren Sehen dient) in irritierend simple Bestandteile auf.

Bei seiner ersten großen Werkübersicht in der Bundesrepublik, die Raetz im vorigen Jahr im Kasseler Kunstverein hatte, zeigte er unter anderem Bildtücher, auf denen grob aufgerasterte Figuren und Köpfe zu sehen waren. Die Motive waren in ein derart großes Format übertragen worden, daß sie nur aus weitem Abstand erkennbar waren; näherte man sich den Bildtüchern, verlor sich der figürliche Halt, und der Blick wurde auf die Rasterpunkte und ihren malerischen Auftrag gelenkt.
Dem gleichen Wechselspiel sah sich der Besucher bei der am Boden liegenden Skulptur „Mimi“ gegenüber: Aus der Nähe sah man bloß ein gutes Dutzend locker zueinander gelegte Holzklötze; erst aus größerer Entfernung erkannte man die Ordnung und das gemeinte Volumen; das vermeintliche Chaos der rohen Holzteile füllte sich nun zur plastischen, bewegten Figur auf. Und Markus Raetz setzt darauf, daß derjenige, der einmal die Figur erkannt hat, sie nicht mehr übersehen kann, auch wenn er wieder dicht vor die Arbeit tritt.

Einer der Raetz-Beiträge zur documenta 7 geht aus der Serie der „Mimi“-Skulpturen direkt hervor: Holzbalken, 25 mal 25
Zentimeter dick, sind zu einer etwa zehn Meter langen Strichmännchen-Figur zusammengelegt. Diese Figur nimmt (wenn man sie als solche erkannt hat) sehr eindringlich die Position einer auf der Seite liegenden Person ein. Markus Raetz weiß, daß gerade an dieser Stelle des Museums Fridericianum, an der er die Skulptur aufgebaut hat, die Besucher keinen allzu großen Abstand gewinnen können, das Problem der Wahrnehmbarkeit sich also fortdauernd stellt.

Ein anderer Aspekt dieser Arbeit ist das Element der Bewegung. Die Kanthölzer für sich wirken starr und sperrig. Trotzdem gelingt es Raetz, sie einander so zuzuordnen, daß man in der Figur die Momentaufnahme aus einem Bewegungsablauf zu erkennen glaubt. Dem in Bern lebenden Künstler, der jetzt ein Jahr lang Stipendiat in Berlin war, geht es bei fast allen Arbeiten um solche Gegensätzlichkeiten beziehungsweise um die Räume zwischen zwei Polen, also um Übergangspositionen. So plant er auch eine Skulptur aus räumlich gestaffelten Polaroid-Fotos von Köpfen.

Schon 1968, als Markus Raetz das erste Mal an einer documenta teilnahm, interessierte ihn das Beziehungsspiel zwischen zweiter und dritter Dimension – da zeigte er Wandreliefs, aus denen mal Dinge scheinbar und mal tatsächlich in den Raum heraustraten. Kennzeichnend für dieses Denken und Arbeiten von Raetz ist auch sein unmittelbares Verhältnis zu den verschiedensten künstlerischen Techniken.

Fundus für seine schier unerschöpflichen Bildideen sind seine tagebuchartigen Skizzenbüeher, in denen die Einfälle spontan notiert werden. Sie lassen noch viel erwarten.
HNA 22. 5. 1982

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