Die liberale Demokratie, so wie sie von der west liche Welt propagiert und praktiziert wird, bedarf
einer grundsätzlichen Revision. Zu dieser Erkenntnis führte die erste Diskussionsrunde der Documenta-Plattform in Wien.
Das Szenario war wie bestellt: Vor dem Hintergrund der Gemeinderatswahlen am 25 März war für gestern Abend zu einer Großkundgebung auf dem Wiener Stephansplatz aufgerufen worden. Das Thema war das Trauma vieler Österreicher, das mit dem Namen des FPÖ-Rechtspopulisten Jörg Haider verbunden ist. Unter dem Motto Gesicht zeigen! Stimme erheben! wurde gegen rassistische Ausgrenzung und für mehr Demokratie statt autoritärer Machtpolitik demonstriert.
Genau um die Fragen der Machtpolitik, Ausgrenzung von Minderheiten und soziale Gerechtigkeit drehte sich auch die Diskussion, zu der das documenta-Team in die Wiener Akademie der bildenden Künste unter dem Titel Demokratie als unvollendeter Prozess eingeladen hatte. Die erste Plattform, die noch über vier weitere Wochenenden bis 20. April fortgeführt wird, erwies sich als weit brisanter, als man vorweg vermutet haben mochte. Bei aller
Unterschiedlichkeit der Positionen wurde von nahezu allen Rednern als fundamentaler Mangel der Demokratie die Tatsache ausgemacht, dass sie eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen kulturellen Identitäten der in einem Land lebenden Menschen versäumt habe.
Die liberale Demokratie ist, wie der Inder Prof. Bhikhu Parekh (University of Hull) es sieht, auf der Vorstellung gegründet, sie habe es mit einem kulturell homogenen Volk zu tun. Das heißt, dass die Gesellschaften gar nicht auf die Anforderung vorbereitet seien, Menschen aus anderen Kulturen bei sich aufzunehmen und mit ihnen richtig umzugehen. Für die Vision einer multikulturellen Gesellschaft, die durchweg als ein Gewinn begriffen würde, gibt es also keine realen Grund- lägen.
Der aus Jamaika stammende Prof. Stuart Hall (Open University; Milton Keynes) spitzte die Erkenntnis noch zu: Mit Globalisierung sei a nicht gemeint, dass die Menschen aus den ärmeren in die reicheren Länder kommen sollten. Nicht sie sollten um die Welt wandern, sondern das Kapital. Aus seiner Sicht wird weltweit die koloniale Ausbeutung der Entwicklungsländer auch nach dem Ende des Kolonialismus munter fortgesetzt und beispielsweise noch durch die Biotechnik verschärft. Aber auch die Westtouristen, die am liebsten hätten, dass die Entwicklungsländer, die sie bereisen, ursprüngliche Idyllen blieben, verhielten sich wie koloniale Eroberer.
Als einer der Grundwidersprüche unseres politischen Systems wurde die Verquickung liberaler und demokratischer Ideen bezeichnet. Während der auf den freien Markt ausgerichtete Liberalismus die freie Entfaltung der Talente zum Ziel habe und die Ansammlung eines Milliardenvermögens binnen weniger Jahre, wie sie Bill Gates gelungen sei, zur Logik des Systems gehöre, seien die demokratischen Prinzipien auf Gleichheit, Ausgleich und sogar Umverteilung ausgerichtet.
Hat das liberal-demokratische System also versagt? Nur der aus Slowenien kommende Philosoph Prof. Slovoj Zizek (Universität Essen) würde eine Politik der Wahrheit dem demokratischen Prinzip vorziehen. Er war auch vorläufig der Einzige, der sich noch auf das traditionelle Links-Rechts-Denken bezog und die Idee des alten Sozialismus nicht verabschiedet hat. Entschieden wendet er sich gegen die ständigen Kompromisse und die Wege der Mitte. Die anderen Redner hingegen
mochten bei aller fundamentalen Kritik vom Prinzip der liberalen demokratischen Ordnung nicht abgehen.
Sie fordern nur wie Parekh eine grundsätzliche Neubestimmung unter den Bedingungen des modernen Staates und der Globalisierung. Vor allem gelte es, Voraussetzungen für eine gerechte Welt(markt)ordnung zu schaffen, ein neues Verhältnis zur Natur zu bestimmen und dafür zu sorgen, dass die Freiheit des Einzelnen auch die Freiheit des Andersartigen sei. Auch ein Optimist wie der Inder Parekh weiß, dass die idealtypischen Ziele nie völlig zu erreichen sind. Sie sollten auch gar nicht, wie sein Kollege Hall ergänzend meint, erreicht werden. Denn sonst käme die geistig-politische Entwicklung zum Stillstand.
HNA 17. 3. 2001