Auszeichnung für documenta-Künstler
Ai Weiwei, der derzeit in Deutschland prominenteste chinesische Künstler, wird im nächsten Jahr mit dem Kasseler Bürgerpreís „Das Glas der Vernunft“ (10000 Euro) geehrt. Der Konzeptkünstler hat sich immer wieder für die Menschen- und Freiheitsrechte in seinem Heimatland engagiert. Erst in diesem Jahr war er von chinesischen Ordnungskräften so zusammengeschlagen worden, dass er sich kurz vor Eröffnung seiner großen Münchner Ausstellung in Deutschland einer Operation unterziehen musste. Bereits sein Vater, ein chinesischer Dichter, war als Regimekritike hervorgetreten.
Seit den 90er-Jahren gilt Ai Weiwei (Jahrgang 1957) als einer der führenden Avantgarde-Künstler in China. Nach einem Filmstudium hatte Ai Weiwei von 1981 bis 1993 in den USA, vornehmlich in New York, gelebt. Internationales Aufsehen erregte Ai Weiwei durch seine documenta-Projekte im Jahre 2007. Das größte Unternehmen war sein Beitrag „Fairytale“ (Märchen). In Anlehnung an die Tatsache, dass die documenta-Stadt auch Wirkungsort der Sprachforscher und Märchensammler Brüder Grimm war und in Anknüpfung an die Geschichten aus 1001 Nacht entwickelte er das Konzept, während der documenta 12 insgesamt 1001 Chinesen nach Kassel zu holen und seinen Gästen zuermöglichen, die Stadt, ihr Umland und die documenta kennenzulernen.
Die Vorbereitung des Projektes war fast noch spannender als die Umsetzung der Gruppenreisen. Denn es kamen nicht nur Studenten und Künstler nach Kassel, sondern auch einfache Menschen vom Lande, von denen einige bis dahin nicht einmal offizielle Papiere besessen hatten. In Filmen dokumentierten Ai Weiwei und seine Mitarbeiter auch, welche Schwierigkeien einige Chinesen durchstehen mussten, um an der Reise teilnehmen zu können. Die zum Ende der documenta 12 präsentierten Filme belegten nachdrücklich die Widersprüche und offensichtliche Rechtsverletzungen in China – die durch „Fairytale“ bewusst gemacht wurden.
In Korrespondenz zu seinen 1001 nach Kassel geholten Landsleuten brachte er 1001 chinesische Stühle aus der Zeit der Qing-Dynastie (1644-1911) nach Kassel. Vor allem in dem Aue-Pavillon waren sie zu einer Attraktion geworden, da nicht nur die verschiedenen Formen und geschnitzten Details die Besucher begeisterten, sondern auch deshalb, weil die meist im Kreis aufgestellten Stühle die Besuchergruppen zum Sitzen und zum Gedankenaustausch einluden. Die Stuhlkreise markierten die Palmenhaine, die Roger Buergel vor Beginn der Ausstellung angekündigt hatte.
Von den Stühlen wiederum ergab sich eine direkte Linie zu der Monumentalskulptur „Template“ (12 Meter hoch), die Ai Weiwei neben dem Aue-Pavillon errichtet hatte. Die Skulptur bestand aus hölzernen Bauteilen (vornehmlich Fenster und Türen), die der Künstler und seine Helfer aus chinesischen Abrisshäusern geborgen hatten. Ein Teil der Häuser hatte dem großen Staudammprojekt in China weichen müssen. Die Skulptur erinnerte an große Tor-und tempelbauten und stand zugleich als Symbol für die Opfer der chinesischen Umsiedlungspolitik.
Nur vier Tage nach der Eröffnung der documenta 12 fiel die Skulptur „Template“ einem Gewittersturm zum Opfer. Sie brach in sich zusammen und war – nach Einshätzung ihres Schöpfers – nun noch besser, als er zuvor gedacht hatte. Die zerstörte Skulptur blieb so liegen, wie sie der Gewittersturm umgemäht hatte und wurde zu einem der am häufigsten fotografierten Objekte der documenta 12. Die Ruine, deren Bruchstücke an die Eisschollen in C.D. Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ erinnerten, symbolisierte nachdrücklicher als die intakte Skulptur die Folgen der chinesischen Ordnungspolitik. Die Ruine wurde zum Sinnbild für die zerstörten Häuser.
In seiner Münchner Ausstellung (Haus der Kunst, 12.10.09-17. 1. 10) erinnert Ai Weiwei mit seiner Arbeit „Remembering“ an die chinesischen Schulkinder, die Opfer des Erdbebens in der Provinz Sichuan wurden, deren Schicksale aber öffentlich nicht gewürdigt wurden, sondern mühsam recherchiert werden mussten.
Mit dem „Glas der Vernunft“ wird der Einsatz für die Menschen- und Freiheitsrechte sowie für die Toleranz gewürdigt. Vornehmlich geht der seit 1991 jährlich verliehene Preis an Repräsentanten aus dem politischen Raum (Hansdietrich Genscher, Lea Rabin, Joachim Gauck). Preiträger waren aber auch der Herzverpflanzer Christian Barnard und der Musiker Yehudi Menuhin. Nach Christo und Jeanne-Claude wird nun zum zweiten Mal eine Persönlichkeit aus dem Bereich der Bildenden Kunst ausgezeichnet. Während die Ehrung von Christo und Jeanne-Claude mehr eine Sympathieerklärung für eine neue Form der Kunst war, die regelmäßig im öffentlichen Raum erst für Aufregung sorgte, dann aber meist für Beifall fand, stehen Ai Weiwei und sein Werk in vorbildlicher Weise für die Ideen, die mit der Preisstiftung verbunden sind.
9. 12. 2009