Die Aktualität hält länger an

Vor fünf, sechs Jahren, im Vorfeld der documenta 6, wurde der Mangel an künstlerischen Neuentwicklungen beklagt. Die Klage lieferte gleichzeitig eine Begründung für die thematische Ausstellung, das Medien-Konzept der vorigen documenta. Es war vom Fehlen der Avantgarde, ja, vom Ende der Avantgarde und der Moderne überhaupt die Rede.

Zur gleichen Zeit wurde aber auch bemängelt, daß nichts oder nur wenig für die jungen Künstler getan werde, daß sie keine Chancen hätten, in den großen Ausstellungsbetrieb vorzustoßen. Gab es also doch eine Avantgarde? Wurde sie nur übersehen?

Die documenta 7, so scheint es, wird zur Klärung des Streites beitragen. Dabei ist es kein Geheimnis, daß das jetzt amtierende documenta-Team nicht das traurige Lied vom Verlust der Avantgarde anstimmt. Rudi Fuchs, Gerhard Storck, Johannes Gachnang und Germano Celant vertraten in den letzten Jahren mit dem, was sie realisierten, sehr klar die Meinung, daß es neue Bewegungs- und Entwicklungslinien in der Kunst gebe.

An die junge Kunst aus Italien, Deutschland, Holland, aus der Schweiz, Osterreich und aus den USA dachte und denkt dabei das Team um Rudi Fuchs erst zuletzt. Die junge Kunst ist zwar nun in Kassel recht kräftig dabei, doch sie machte erst in den letzten zwei Jahren lautstark von sich reden. Diese Welle rollte mitten in die documenta-Planung hinein und trug dann auch erheblich zur Verlängerung der Künstlerliste bei. Das Hoch- und Überschwappen ausdrucksstarker, gefühlsbeladener und erzählerischer Kunst bestätigte aber auf ganz unerwartete Weise Fuchsens These vom Wiedererstarken der Malerei und von der Profilierung europäischer gegenüber amerikanischer Kunst.

In der Tat ist die Malerei in den vergangenen Jahren derart wiedererstarkt, wird bis in die untersten Klassen der Akademien heftig, gestisch und figürlich gemalt, daß einigen das Malen schon über ist. Doch gerade die Begierde, mit der der Markt die neue Malerei aufsog, als habe es dergleichen seit 50 Jahren nicht gegeben, ermöglichte Vergleiche und Unterscheidungen. Auf einmal nämlich waren die von Fuchs schon seit langem favorisierten Künstler wie Polke, Baselitz, Kiefer, Penck und Immendorff nicht mehr Außenseiter, sondern Vorreiter einer neuen sinnlichen, aber auch reflektierenden und bisweilen kämpferischen Malerei.

Die geflügelte Palette, die die Malerei als einen aus der Asche aufsteigenden Phönix vorführt, ist für eine ganze Bildserie von Anselm Kiefer zum Leitmotiv geworden. Aber auch Immendorff und andere haben den „Malermut“, die Entscheidung für die Malerei und ihre Kraft, immer wieder zu Bildthemen gemacht. Und es erscheint wie ein Indiz für diese Bewegung, daß Richard Long, von dem man vor zehn Jahren auf der documenta einen meditativen Steinkreis sah, dieses Mal mit Erdfarbe vibrierende konzentrische Kreise an die Wand „geworfen“ hat.

Doch Longs Sprung von der Raum-Installation zur Wandbemalung macht auch auf eine andere Entwicklungsszene in der aktuellen Kunst aufmerksam: So stark wie nie zuvor springen die Künstler zwischen den Medien, kommen von der Plastik zur Malerei oder lassen bildnerische Flächen zu Körpern oder Raumteilen auswachsen. Der Maler Baselitz überraschte die Fachwelt vor zwei Jahren auf der Biennale in Venedig mit einer roh geschnitzten Holzskulptur; auch für die documenta 7 nahm er eine solche Arbeit in Angriff. Jon Borofsky setzt seine Fülle von Ideen und Visionen in Arbeiten um, die von der Zeichnung auf einen Zettel in raumfüllende Wandmalerei übergehen und in kleinen Objekten pointiert werden. Markus Raetz malt, zeichnet, fotografiert und gestaltet Holzobjekte gleichzeitig.
Es ist, als wende eine Generation von Künstlern erstmals konsequent alle Erkenntnisse und Errungenschaften der modernen Kunst an, ohne sich allzu intensiv mit nur einer Stilrichtung einzulassen.

Es scheint alles offenner zu sein. Der Schritt von der strengen konzeptionellen Arbeit eines On Kawara zu den nummerierten Visionen eines Borofsky ist kleiner, als man anfangs denkt. Und für etliche Maler, die in der Auseinandersetzung mit Tachismus oder strenger Einfarbenmalerei groß geworden sind, stellt sich die einstige Gretchenfrage – figürlich oder abstrakt – gar nicht mehr. Ihre Interessen liegen ganz woanders. Die Wand und der Rahmen sind nicht mehr die unbedingten Partner für Bilder. Und wenn ein Künstler vie Richard Tuttle seine nur hingetupften Aquarelle in massive, aufdringliche Holzrahmen steckt, dann ist das schon eine Reaktion auf das laxe Verhältnis, das heute vielfach um Bildträger existiert.

Das Einteilen der kunstgeschichtlichen Zeitabschnitte in Stilkategorien verführte oft dazu, andere Entwicklungslinien zu übersehen. Die documenta 7 könnte mit ihrem Abrücken von dem Schubladendenken den Blick auf die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der künstlerischen Äußerungen lenken. Da sind etwa Tuttles Aquarelle, die nur in Momenten mit dem tupfenden Pinsel berührt wurden (so als dürfe man sich nicht festlegen) und da ist Richard Serras schwarzes Bild, das der Amerikaner in tagelanger, kräf:tezehrender Arbeit ausgerieben hat; oder da ist die Backstein-Skulptur in Hausform des Dänen Per Kirkeby, die nach einem Plan des Künstlers von Maurern gesetzt wurde, und da ist der Blütenstaubteppich von Wolfgang Laib, der sein organisches Farbmaterial auf den Wiesen und in den Wäldern selbst mühsam zusammentrug.

Zur gegenwärtigen Kunstszene zählt aber auch manches von dem, was vor 20 oder 30 Jahren erstmals aktuell war. Mehrfach war schon im Zusammenhang mit der documenta-Planung erörtert worden, ob man der aktuellen Kunst-Schau nicht ein historisches Vorwort beigeben und Entwicklungslinien aufzeigen solle. Doch Fuchs stand nie der Sinn nach womöglich chronologisch gegliederten Rückgriffen. Er versteht vielmehr den Begriff der Aktualität in einem erweiterten Sinne und sieht alles das als unmittelbare zeitgenössische Kunst an, was bis heute noch wirksam ist.

Den Schweizer Richard Paul Lohse, der im September 80 Jahre alt wird, zählt Fuchs mit dessen seriellen Farbuntersuchungen dazu; aber auch der Italiener Emilio Vedova, der bei den ersten documenten dabei war, gehört zu diesem Kreis.

Die documenta 7 mit ihren Wiederentdeckungen muß man also auch als einen Anlauf gegen die Kurzzeitgedächtnisse ansehen, die immer nur gerade Sinn für das Angebot von heute haben. Wer die vergangenen documenten mit einiger Aufmerksamkeit besucht hat, wird auf mehr vertraute als unbekannte Namen
stoßen. Die documenta der 40jährigen (sowohl im Macher-Team als auch unter den Künstlern sind die 40jährigen in der Überzahl) hat die vorausgegangenen, aber auch die nachwachsenden Jahrgänge nicht übergangen.

In manchen Ausstellungen gilt ein unbedingtes Gleichheitsprinzip: Jeder Künstler darf gleich viele Arbeiten oder auf gleicher Fläche ausstellen. Doch die besten Bestrebungen nützen nichts, da die Werke eben nicht gleichartig und gleichwertig sind. Die künstlerische Leitung der documenta 7 hat sich von vornherein
gar nicht auf ähnliche Gedanken eingelassen und aus der qualitativen Unterschiedlichkeit der Räume die Konsequenz gezogen. Fuchs und seine Mannschaft setzen bewußt Akzente, unterscheiden zwischen besonders wichtigen und weniger prägenden Künstlern und lassen eine gewisse qualitative Ordnung durchscheinen:
Das Erdgeschoß des Museums Fridericianum sollte nach diesen Vorstellungen die „Helden“, die Hauptfiguren, aufnehmen. Ein mutiger Vorsatz, der die Kritik geradezu herausfordern wird.

HNA 18. 6. 1982

Schreibe einen Kommentar