Alte und junge Wilde

Noch ein halbes Jahr vor Beginn der Kasseler documenta 7 sprach vieles gegen eine breite Darstellung der jungen leidenschaftlichen Malerei in dieser Ausstellung. Doch dann kam manches anders. Und in dem Augenblick, in dem sich Fuchs und sein Team entschieden hatten, die jungen Italiener auf breiter Front zuzulassen, fühlten sie sich verpflichtet, auch auf die entsprechenden Strömungen in den anderen Ländern einzugehen.

Die Entscheidung ist vom Grundsatz her richtig, auch wenn sich im Moment noch nicht abschätzen läßt, ob der plötzliche Höhenflug dieser Malerei nur ein Zwischenspiel ist oder ob hier der Kunst langfristig neue Wege eröffnet werden. Für die Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Kunstszene jedenfalls ist die Auswahl insgesamt treffend.

Einer der wichtigsten Erfolge der jungen Malerei betrifft nicht sie selbst, sondern ihre offensichtlichen und weniger bekannten Vorbilder. Auf einmal verändert sich das Bild der Kunstgeschichte und fallen die künstlichen Grenzen zwischen abstrakter und figürlicher, zwischen expressiver und geplanter Malerei. Die documenta 7 leistet hier Wesentliches.

Zu Recht holt sie den Venezianer Emilio Vedova (Jahrgang 1919) auf die internationale Bühne zurück. Vedova war schon in den 50er- und 60er-Jahren documenta-Gast, doch er geriet mit der Schule des abstrakten Expressionismus ins Abseits. Seine in letzter Zeit entstanden Bilder sind jedoch von so großer Frische und Vitalität, daß man sie schwerlich übergehen kann.

Vedovas Bilder stellen die Malerei, den Malgestus, zur Diskussion und pflegen ihn zugleich. Dadurch rücken die Gemälde stark in die Nähe des Düsseldorfers Gerhard Richter, der einen mit seinen explosiv farbigen „abstrakten Bildern“ in den Bann zieht. Ähnlich wie es Roy Lichtenstein tat, macht Richter den Farbauftrag, den Pinselstrich, zum Bildthema. Während aber bei dem Amerikaner der Gestus erfror, bleibt sich hier die Malerei in ihrer Direktheit und Lebendigkeit treu. Es sind aufregend bunte Gemälde mit schönen Ruhezonen und von erstaunlicher Tiefe und Plastizität.

Wechselbeziehungen aufgezeigt

Die gleiche aufreizende Farbigkeit besitzen übrigens die Riesenformate des fast 80jährigen Schweizers Richard Paul Lohse; während aber bei Richter die Farben miteinander ringen und sich gegenseitig zu überlagern suchen, werden sie bei Lohse in eine streng rationale, serielle Ordnung gebracht. Ein Farbfeld steht da neben dem anderen.

Einer der Vorzüge der documenta-Inszenierung ist, daß sie auf solche Wechselbeziehungen verweist. Es ergeben sich Verknüpfungslinien quer durch die Generationen und Stile. Ein für die Malerei befreiendes Erlebnis. Was die gestische Malerei der Vater-Figuren anbetrifft, kann man den Faden noch fortspinnen: Arnulf Rainer bekannt durch seine dunklen Übermalungen, stellt sich in Kassel mit einer Wand stark bunter, exzessiv-gestischer Bilder vor, die direkt mit den
Fingern und Händen gemalt wurden. Rainers, aber auch Richters und Vedovas Arbeiten wirken weit explosiver und wilder als manches der jungen Generation.

Georg Baselitz, der seit einem Dutzend Jahre Bilder mit kopfstehenden Motiven malt, hat von der Hängung seiner Bilder her in der Gesamtausstellung eine
Schlüsselposition erhalten. Seine Gemälde bilden auch so etwas wie die Nahtstelle zwischen rein gestischer und expressiv-erzählerischer Malerei. Es sind Schicht für Schicht gewachsene Bilder, die etwas anpeilen, verwerfen, neu aufbauen und immer wieder auf Rohheit, Einfachheit und Disharmonie aus sind. Gerase deshalb ist erstaunlich, wie harmonisch und in gewisser Weise auch schön diese plastische Malerei wirkt.

Der aus der DDR ausgebürgerte A.R. Penck behauptet sich mit seinem Anspruch auf eine kraftvolle und einfache, zeichenhafte und spontane Bildgestaltung. Dagegen wirken die Großformate von Markus Lüpertz still und nahezu klassisch wie Gemälde des Kubismus. Von ganz eigener Qualität sind Anselm Kiefers in die Mythen der Geschichte eindringenden Arbeiten, die die Orte des Geschehens durch die Einbeziehung von Sand, Stroh, Holz und Eisen in die Malerei plastisch greifbar werden lassen.

Obwohl Kiefer und die jungen Italiener mit ihren frischen, bunten und ausschweifend phantastischen Bildern zwei Welten angehören, gibt es zumindest einen Berührungspunkt: die Bildebene wird aufgebrochen und zum Relief erweitert. Nicola de Maria, Enzo Cucchi, Sandro Chia, Francesco Clemente und Mimmo Paladino stellen in Kassel nachdrücklich ihre unerschöpflich scheinende malerische Kraft unter Beweis. Sie haben sich ihre Spontaneität im Umgang mit der Bildidee erhalten, haben aber auch zu unterschiedlichen Stilausprägungen gefunden.

Dagegen wirken die jungen Deutschen beinahe diszipliniert. Überraschend schnell haben sie zum normalen Bildmaß zurückgefunden. Unumstrittene Stars sind Elvira Bach und Salomé aus Berlin. Die eine stellt in stets neuen Wendungen die eigene Figur naiv-expressionistisch ins Bildzentrum, der andere widmet sich ohne Unterlaß dem heftig bewegten männlichen Körper und pflegt dabei eine dem spontanen Gestus zuneigende Malerei.

Nicht alles, was hier zu sehen ist, hat gleiches Gewicht. Doch die junge leidenschaftliche Malerei wirkt im Generationenvergleich weder so wild, wie es ihr die Attribute unterstellen, noch so schlecht, wie es manchem Kritiker lieb wäre. Und da, wo die Malerei schlecht sein will (wie bei dem Kölner Walter Dahn), da ist eher Aufmerksamkeit geboten als vorschnelles Abwinken.

HNA 26. 6. 1982

Schreibe einen Kommentar