Mit Fasten und Schweigen

Dies ist eine stille documenta. Spektakulare Auftritte wie die Schmelz-Aktion von Beuys haben da schon Zirkus-Charakter und sprengen den Rahmen. Für aktionsreiche Performances (streng geplante, pantomimische Aufführungen), wie man sie bei der documenta 6 erlebte, gibt es kaum Platz im Konzept. Und so ist es kein Zufall, daß die zentrale Performance im offiziellen Programm eine ohne jede Aktion ist.

Das Arrangement ist vorzüglich: Wer die Performance erleben will, muß den Rundgang durch die Orangerie unterbrechen und in den zweiten Stock, in den über dem Dach liegenden Apollo-Saal aufsteigen. Dort betritt er einen Raum des Schweigens. Am Kopfende des Saales sitzen sich Ulay und Maria Abramovic an den Längsseiten eines Tisches gegenüber. Sie in orangefarbenem Hosenanzug, er in Violett. Sie sitzen sich bewegungslos und schweigend gegenüber, sieben Tage lang für jeweils sieben Stunden. Kein Wort und keine Bewegung. Sie sitzen da, als würden sie sich nach einem längerem Gespräch beobachten, angespannt und doch entspannt.

Auch vorher und nachher sind sie nicht zum Gespräch bereit. Und wer am Ende der siebenstündigen Sitzung doch Aktion erwartet, sieht sich getäuscht:
Kurz vor 19 Uhr müssen die Besucher den Apollo-Saal verlassen; das Aufstehen und mühsame Entkrampfen ist eben nicht mehr Teil der Performance. Ulay und Maria Abramovic erstarren für sieben Stunden zum Bild; dessen Auslöschung aber bleibt verborgen.

Die documenta-Performance unter dem Titel „Durch das Nachtmeer“ ist Teil eines 90-Tage-Programms des Fastens und des Schweigens, das die beiden Künstler in verschiedenen Orten realisieren. In Kassel treten sie drei mal sieben Tage auf – zu Beginn der documenta, zur Halbzeit (noch einschließlich heute) und vom 20. bis 27. September.

Die beiden arbeiten seit sieben Jahren zusammen und haben in ihren Performances stets die Paarbeziehung zu einem ihrer Hauptthemen gemacht: Sie haben sich in Urlauten ausdauernd angeschrien, sie haben demonstrantiv sich Gegenstände überreicht, sie haben miteinander getanzt. In jedem Fall waren dies Aktionen von größter Intensität und Anspannung, voller Körperbeherrschung bis in die Arm- und Fingerhaltung. Nicht der Bewegungsablauf war wesentlich, sondern jedes Bild in der Bewegung (daher lassen sich die Performances auch so gut fotografisch dokumentieren). In „Durch das Nachtmeer“ nun lösen sie sich ganz aus der Bewegung und werden zu dem einen Bild.

Sie sind da, präsent, fallen aber aus der Zeit heraus. Ihre Gegenwart wird zeitlos wie die eines überdauernden Gemäldes. Ein lebendes Bild, hervorragend komponiert. In dem Katalogtext zur „Momentbild“-Ausstellung in Hannover wurden die beiden Künstler als „Meister im Arrangieren“ gepriesen. Das gilt: Die aus Bumerangs gebildete archaische Hakenkreuzform an der Stirnwand, die weißen, lampionähnlichen Tuchbeutel über ihren Köpfen, die aufgestellten Goldstäbe im Vordergrund, die bunten Kordeln an den Wänden und der Trinkbehälter mit dem Goldwasser (für die Besucher) verklären die stille Szenerie zu einem mythischen Raum.

Reise durch das Nachtmeer – eine stille, meditative Reise nach innen, die Begegnung mit dem anderen wird zu einer Begegnung mit sich selbst. Manche Besucher reagieren ratlos auf das Schweigen, andere hilflos (sie lachen), aber manche schließen sich für Minuten oder sogar Stunden dieser Reise an.

HNA 13. 8. 1982

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