Ein Stuhl wird rot

Stellen Sie sich vor, Sie verlassen ein Wohnzimmer, kehren aber einen Moment später um und finden das Zimmer total verändert – die Möbel haben die Plätze getauscht. Michael Erlhoff, ein Kenner und Kritiker des zeitgenössischen Designs, hält das für machbar. Vielleicht nicht im Moment, doch er glaubt, daß eine französische Gruppe von Gestaltern in zwei, drei Jahren soweit sein könnte, dies zu ermöglichen.

Inder Vision steckt für Erlhoff mehr als nur ein witziger Theatereffekt. Er meint vielmehr, laß einige Formgestalter (Designer) neben der Funktionstüchtigkeit und Attraktivität eine ganz neue Dimension in der Beziehung zu den Dingen des alltäglichen Lebens entdeckt haben. Es gehe nicht mehr nur noch um die Frage, wie man die Dinge benutze, sondern auch um das viel größere Problem: Was geschieht mit den Objekten, die man vorübergehend nicht braucht?

Wenn man daran denke, daß Arbeits- und Schlafzimmer in einem Raum vereint sind, dann könnten doch die Betten zur Unzeit verschwinden. Das aber bedeutete: Warum sollte es dann dank Technik und Design nicht eine elegante Bäumchen-wechsle-dich-Lösung für die Möbel geben, bevor man die Betten mühsam in Schränken oder unter Decken zu verbergen suche?

Dahinter verbirgt sich nicht nur die Suche nach mehr Automation; sondern in erster Linie die Frage, wie unser Verhältnis zu den Gebrauchsgegenständen angesichts der Tatsache neu geordnet werden könne, daß immer mehr Objektbereiche uns durch die Entwicklung von Chips und Software entzogen werden. Das ist einer der Ansätze, von denen aus Michael Erlhoff für die Kasseler documenta 8 Design-Beiträge ausgesucht hat. in einer Zeit, in der „uns die Objekte wegrutschen“, will er vorführen, wie Designer die Nagelprobe aufs Objekt machen und vom toten Gebrauchsgegenstand Abschied nehmen: Es wird auf der documenta einen Stuhl geben, der sicher auf seinem Schatten steht. Daneben wird man einen Stuhl sehen, der wie ein Mensch rot wird, wenn man ihn anspricht. Und schließlich wird es einen Teppich geben, aus dem heraus ein verborgener Sessel auftaucht, wenn man den Teppich betritt. Die Dinge werden lebendig.

In der documenta 8 werden etwa 16 Designer mit Arbeiten vertreten sein. Die Objekte werden aber nicht in einer Abteilung versammelt, sondern werden in die gesamte Ausstellung hineinwirken. So wird ein von Stefan Wewerka entworfener Stuhl überall dort zu sehen sein, wo für das Aufsichtspersonal ein Sitzplatz geschaffen werden muß. Die Kassenhäuschen vor den Ausstellungsgebäuden und auch die Einrichtung der Diskothek, in der ein Teil des Performance-Programms ablaufen soll, werden Beiträge zum Design-Programm sein.

Das Design-Programm verdichtet sich allerdings in der Orangerie, wo im dialogartigen Wechsel mit Kunst und Architektur, in einzelnen Räumen Design-Objekte und Environments konzentriert werden sollen. Erlhoff glaubt, daß sich daraus ein spannender und auch geschlossener Ablauf entwickeln werde, gerade weil sich auch viele jüngere Künstler aus einem ganz anderen Blickwinkel mit Möbelformen und Design-Fragen auseinandersetzen. Zu einer Vermischung der beiden Bereiche soll es nicht kommen. Erlhoff, der seit Jahren die Entwicklung des Designs kritisch und theoretisch begleitet, will zwar keine Hitliste des internationalen Designs aufstellen, doch er will auch keine Gegenwelt zur Industriegestaltung aufbauen: Fünf der Objekte, die gezeigt werden, sind bereits in der Produktion; in anderen Fällen handelt es sich um Einzelstücke oder Prototypen. In den Formen wie Farben überraschende Möbel von Alessandro Mendini werden ebenso darunter sein wie ein Buch aus Metall (von Oscar Tusguets), an dem eine Lampe fürs Bücherregal anzuschließen ist. Zum Konzept gehören daneben großzügige Inszenierungen wie ein Spiegelsaal von Ettor Sottsass, in dem die Rahmen die Spiegelbilder im neuen Licht erscheinen lassen.

HNA 21. 3. 1987

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