Wieder große Räume für die Kunst

Jede Frage nach dem Erfolg, nach der Qualität der Kasseler documenta ist eine Frage nach ihrem Uberleben. Dies gilt um so mehr, als Großausstellungen außerhalb Kassels aus dem gleichen Geist und mit einem ähnlichen Inszenierungsanspruch geschaffen wurden und damit der documenta ihre Einzigartigkeit nahmen.

Wenn man nach der Qualität einer documenta fragt, muß man sich allerdings auch klar darüber sein, welche Ansprüche man an sie stellt: Bode und Haftmann hatten es, was die Auswahl der Künstler und Werke für die ersten drei documenten anbetraf, relativ leicht, denn sie betraten Neuland und konnten aus der Fülle schöpfen. Heute müssen die Gestalter großer Kunstausstellungen nicht mehr unbedingt Neufindungen der Kunst vorführen, das leistet der sonstige Ausstellungsbetrieb, sondern sie müssen bündeln und akzentuieren. Wenn man dies auch für die documenta als Gebot annimmt und dabei voraussetzt, daß das umfassende Panorama der gegenwärtigen Kunst nicht möglich oder sinnvoll ist, dann findet man wohl zu dem rechten Maßstab.

So wie documenta 7 eine Gegenposition zu ihrer Vorgängerin einnahm, so formuliert die documenta 8 wiederum den Widerspruch zur d 7. Es wird, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht wiederaufgenommen, sondern es wird ein ganz anderer, eigener Ausschnitt der Kunstproduktion gezeigt. Will man mit Hilfe der documenten einen Uberblick über die Kunst der 80er Jahre gewinnen, muß man die Bilder, Objekte und Installationen der documenta 7 im Kopf haben, wenn man durch die d 8 geht.

Hält man diesen Weg für legitim, dann sind Manfred Schneckenburger und sein Team den richtigen Weg gegangen: Sie setzen das, was Rudi Fuchs vor fünf Jahren ausbreitete, insbesondere die wiedererstarkte Malerei, als bekannt voraus und wenden sich dem zu, was ihrer Ansicht entweder zu kurz kam oder inzwischen neu entstand. Daß die Malerei dabei zu einem Randereignis würde, war vorauszusehen. Dafür werden aber ganz neue Gesten, Haltungen und Temperamente sichtbar und hörbar. Die Zeit der Stille ist vorbei. Die Kunst erobert den Raum, läßt die Leinwand hinter sich und spielt mit den Mitteln der Gestaltung. Das laufende Bild kommt hinzu, der Klang und die Projektion. Der Besucher wird in ganz anderer Weise herausgefordert.

Jedes documenta-Team ist vor das Problem gestellt, zwei unterschiedlich geartete Häuser zu bespielen – das Museum Fridericianum mit seiner (deformierten) klassizistischen Grundstruktur und die Orangerie. Eine Ausstellung, die sich bloß von einem Haus ins andere verlängert, gerät in Gefahr, die Inszenierung auf eine schiefe Ebene zu heben. Schneckenburger hat diese Gefahr gebannt, indem er zwei ganz unterschiedliche Ausstellungen schuf: Im Fridericianum können die Künstler ihre Ängste, Hoffnungen und Gefühle formulieren, in der Orangerie hingegen gerät man in die bunte Weit des Designs und dessen kritische Spiegelung in der Kunst.

Rudi Fuchs hatte vor fünf Jahren zum heiteren Spaziergang eingeladen, bei dem man den Dialog der Kunstwerke erleben können sollte. Von dieser Heiterkeit ist bei dieser documenta im Fridericianum keine Spur. Stattdessen erlebt man großartige Räume. So sehr die Macher über die innere Beschaffenheit des Fridericianums geklagt haben und so irritierend an einzelnen Ecken die schräg zum Haus laufenden (und Leerräume schaffenden) Inneneinbauten sind, so sicher ist, dass lange nicht mehr den Kunstwerken und Installationen so klare und großzügige Räume bereitgestellt wurden.

Es ist zwar kein zwingender Rundgang entstanden, es haben sich jedoch äußerst starke Linien und Dialoge ergeben. Man mag der verlorenen Mitteltreppe nachtrauern. Ohne sie konnte in der Rotunde allerdings eine besonders kraftvolle Konfrontation geschaffen werden: Im Erdgeschoß das ästhetisch-schöne, aber äußerst kritische Ensemble (Deutsche Bank – Mercedes – Südafrika) von Hans Haacke. Darüber Richard Serras „Segmente einer Spirale“ – die Stahlplatten nehmen den Bogen der Rotunde (und verlorenen Treppe) auf und stören in sanfter Weise die Ordnung. Gegenüber der stille, aber tief nachdenklich stimmende Raum von Joseph Beuys. Ganz oben eine weitere Störung der Ordnung, eine Stätte der Bedrohung durch Serge Spitzers Inszenierung mit Fahrstuhlkabinen. An den Wänden zwischen den Stockwerken schließlich die großformatigen, kritischen Bildtafeln von Barbara Kruger. Das überzeugt.

Ähnliches läßt sich für andere Räume oder Gegenüberstellungen sagen. Der Wechsel von Anselm Kiefers Raum mit den riesigen dunklen Bildern zu den kleinen, hellen Reishäusern von Wolfgang Laib etwa, die zwischen Leben und Tod pendelnde Malinszenierung von Gerhard Merz oder Robert Longos Gewaltvision. Wie Fuchs hat sich auch Schneckenburger für eine hierarchische Ordnung entschieden und seinen ‚Helden“ das erste Stockwerk sowie die Rotunde eingeräumt.

Diese Rangordnung wird nicht jeder übernehmen wollen, sie verhilft der Ausstellung allerdings zu einer inneren Dynamik. Wohltuend ist, dass Schneckenburger seine theoretischen Überlegungen zur Kunst, die Gewalt und Hoffnung reflektieren, nicht der Ausstellung übergestülpt hat.
Die verschiedenen Aspekte der documenta 8 werden im Laufe der Zeit zu behandeln sein. Doch zwei weitere Beobachtungen seien noch angemerkt: Die Videokunst, 1977 stark ins Feld geführt, blieb oft ein Stiefkind von Ausstellungen. Hier ist sie voll integriert, weil es den beteiligten Künstlern gelungen ist, aus den Monitoren Bild-Klang-Skulpturen zu bauen, in denen sich Bildwände oder gegeneinander laufende Bildfolgen ergeben.

Und noch ein anderes: Den unvorbereiteten Besucher stürzt die Orangerie in ein Wechselbad der Gefühle, weil hier Kunst, Design und Architektur in einen jeweils übergreifenden Dialog treten. An einigen Punkten vollführt die Ausstellung eine gefährliche Gratwanderung, bei der die Kunst eher zu stürzen droht als das Design. Die über die Ausstellung verteilten Kojen mit den Visionen der Idealmuseen geben aber Halt.

Die documenta begibt sich in kritische, aber zeitgemäße Zonen. Sie kann zum Abenteuer
werden.

HNA 13. 6. 1987

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