Im Schutze des Bären

Von der ersten Stunde an wird er verehrt und geliebt – der fünf Meter große Teddybär, der mit seinen drei Köpfen die ganze Kasseler Fuldaaue und das Geschehen rund um die documenta 8 im Blick hat. Kleine Kinder wollen ihn umarmen, und selbst Erwachsene, ob Kunstjünger oder nicht, fühlen sich magnetisch angezogen und sind versucht, ihn zu streicheln.

Der in New York lebende Performance-Künstler Charlemagne Palestine hat dies geahnt und erhofft. Er wollte den Kasseler Bürgern und den documenta-Besuchern, von denen die meisten mit einem kuscheligen Teddybären groß geworden sind, eine Freude machen und ihnen das Symbol ihrer Kindheit und Geborenheit als eine riesige Totemfigur zurückgeben. Und doch ist er unglücklich, daß sein Plan nicht ganz funktioniert: Die Begeisterung der Kinder und Erwachsenen war in den ersten Tagen so massiv und zudringlich, daß der Bestand des Bären bedroht war. Da zwischen liebevoller Annäherung und Aggression bald nicht mehr zu unterscheiden war, mußte ein Schutzring um den Teddy gezogen werden. Selbst der Knopf im Ohr, der diskrete Hinweis auf den Hersteller, der zwei Drittel der Produktionskosten übernahm, ist gestohlen worden.

Was aber macht der Riesen- Teddy auf der documenta? Grundgestalt, Material und Proportion hat Palestine von dem Prototyp des Plüschbären übernommen, so wie er seit 85 Jahren in Deutschland produziert wird. Genau das fasziniert den aus Europa stammenden Künstler – daß das Land, das den
Holocaust zu verantworten hat, auch das Lieblingstier aller Kinderzimmer (und nicht nur dort) hervorgebracht hat.

Der Teddybär ist für Palestine das Totemsymbol der westlichen Welt im 20. Jahrhundert. Aus diesem Grund wollte er dieses Stofftier in eine riesige Totemfigur Umsetzen, vergleichbar mit den Buddha-Statuen Asiens: Der Teddy besteht aus zwei aneinandergenähten Körpern, auf denen drei Köpfe sitzen, so daß die Plüschskulptur keine Rückseite hat. Ruhig, gelassen und freundlich sitzt er da, ein Schutzheiliger der Kindheit und der Träume.

Der Plan, den bisher größten Teddybären der Welt im documenta-Gelände aufzustellen, fand nicht ungeteilten Beifall. Er hätte sich mit dem Bären, so klagt Palestine, ganz an den Rand des Geländes, an die Drahtbrücke zurückziehen müssen. Doch es handelt sich nicht um eine bloße Rummelplatz-Attraktion. Vielmehr wird in dieser Teddy-Skulptur, die segnend an der Fulda thront, eine weitgehend verdrängte Gefühls- und Zufluchtsebene versinnbildlicht. Ein Gegenstück zu der ebenfalls ins Überdimensionale vergrößerten Spitzhacke, die Claes Oldenburg vor fünf Jahren nur einen Steinwurf weit entfernt am Fuldaufer aufstellen ließ.

Am letzten Juniwochenende plant Charlemagne Palestine Aktionen an seinem Bären – mit Blumen und Musik. Auch träumt er davon, wie es wäre, wenn die Kinder und Erwachsenen in einer Prozession mit ihren kleinen zu dem einen großen Teddybär kämen.

HNA 19. 6. 1987

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