Grenzen des Wachstums

Die Schlangen vor den documenta-Häuschen lassen die Organisatoren strahlen: Die Kunstwelt kommt wieder nach Kassel und bestätigt damit den Rang der documenta als der zentralen Kunst- schau. Haben also die mehr als 60 000 Besucher in den ersten zehn Tagen das Konzept abgesegnet, der Ausstellung bereits jetzt zum Erfolg verholfen?

Vorsicht ist geboten. Die Abstimmung mit den Füßen ist eine zweischneidige Sache im Kunstbetrieb. Die Politiker, die das Geld geben, verlangen zwar danach, sie wollen Wirkung sehen. Tatsächlich ist auch der Etat auf Zuspruch gebaut. Kommen weniger als 350 000, ergibt sich unter dem Strich ein Defizit.

Der Andrang der. Besucher während der ersten Tage hat nur in zweiter Linie mit der konkreten Ausstellung zu tun. Den Erfolg kann erst einmal die documenta-Idee, die Institution, verbuchen. Die documenta ist im Laufe der 32 Jahre so sehr zur Attraktion, zum Wallfahrtsort des internationalen
Kunstpublikums geworden, daß sie, unterstützt durch kräftige Werbung, zum Selbstläufer geworden ist. Insofern besteht jetzt schon keine Bange mehr um das Zustandekommen der documenta 9.

Nur eins werden sich die Organisatoren abgewöhnen müssen, nämlich darauf zu setzen, daß jede documenta eine neue Rekordmarke erreicht. So publikumswirksam dies sein mag und so gut dem Etat immer höhere Besucherzahlen tun – die Grenzen des Wachstums sind erreicht. Wer an den Feiertagen zu bestimmten Zeiten in die kleineren Ausstellungsräume kam, dem konnte Angst werden um das Kunsterlebnis, das die Besucher mitnahmen, die allein in diesem Moment einzelne Arbeiten erlebten. Da sah man zeitweise vor lauter, Besuchern keine Installationen mehr.

Der Widerspruch ist wohl für alle großen Ausstellungen unauflösbar: Sie werden fürs breite Publikum gemacht. Doch die vielen, die kommen, erschweren sich gegenseitig den Kunstgenuß.

HNA 23. 6. 1987

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