Bilder aus dem Kopf

Die Malerei, das wurde hier verschiedentlich beschrieben, ist dünn gesät in der Kasseler documenta 8. Umso stärker treten die wenigen malerischen Werkgruppen hervor. Den vom Rundgang im Museum Fridericianum bestimmten ersten und dazu faszinierenden Eindruck hinterlassen dabei die Gemälde des Kaliforniers Mark Tansey (Jahrgang 1949), die aus zwei sehr formalen Gründen ins Auge fallen: Sie sind in einer ganz klassischen Manier gemalt, so, als entstammten sie gar nicht unserer Zeit. Gleichzeitig sind sie in ihrem fotografischen Realismus in jeweils nur einer Farbe gestaltet, womit sie an die traditionelle Grau-in-Grau-Malerei (Grisaille-Technik) anknüpfen.

Wer sich von den Bildern richtig packen lassen will, der muß durch diese oberflächlichen Schichten hindurchschauen. Nehmen wir das in Rot-Tönen gemalte (und hier abgebildete) Gemälde „Mont Sainte Victoire“: Vor dem Schatten eines Berges sind Männer (Soldaten) zu sehen, die am Wasser stehen bzw. baden. In der rätselhaft düsteren Landschaft leuchten die hellen Körper auf, wobei sie sich gleichzeitig in der unnatürlich starren Wasserfläche spiegeln. Mit ihnen spiegeln sich Bäume, Berg und Himmel, so daß sich die weite dunkle Landschaft zu einer Höhle schließt.

Je länger man sich auf das Bild einläßt, desto klarer wird, wie wenig der Spiegel ein Abbild liefert. Die Wirklichkeit findet sich hier nicht wieder, sondern der Wasserspiegel läßt wie im Falle des Berges (dunkle Vertiefung) Gegenbilder entstehen. So sind dies auch gar keine Männer, die sich im Wasser spiegeln, sondern Frauen. In der Spiegelung werden die Menschen zu doppelgeschlechtlichen Wesen, gleichzeitig entpuppt sich das Abbild der Wirklichkeit als Gegenwelt.

Mark Tansey ist ein Maler, der sich sehr intensiv mit dem Wechselspiel zwischen der Wirklichkeit und deren Projektion beschäftigt. Er nimmt dabei dem Spiegel seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit und gibt ihm den Zauber zurück. In dem Gemälde „Urteil des Paris“ nimmt der Spiegel eine ganz andere Position ein: Ein Offizier im Stile de Gaulles wendet sich von der Wirklichkeit und den ihn umgebenden Bildern ab, um sich seiner Projektion zuzuwenden.

Immer steckt in den Gemälden Tanseys auch Zeitkritik. Auf sinnliche Weise erzählt er von Trugbildern, von Phantomen, die uns als die realen oder die Sinn-Bilder unserer Welt erscheinen. Im documenta-Katalog wird darüber hinaus darauf verwiesen, daß Tansey in dem Bild „Mont Saint-Victoire“, auf dem die Menschen wie Licht- Projektionen erscheinen, an Platons Höhlengleichnis anknüpft und sich mit den zeitgenössischen französischen Denkern auseinandersetzt. Gleichzeitig muß man aber wissen, daß die Form des abgebildeten Berges und der Bildtitel eine direkte Beziehung zu Cezanne herstellen, der diesen Berg verschiedentlich gemalt hat.

Das altmeisterlich realistische Gemälde, das so leicht zugänglich scheint, entpuppt sich als kompliziertes, vielschichtiges Bild aus dem Kopf, das aus philosophischen Gedankenverbindungen, kunsthistorischen Bezügen und künstlerischen Eigenheiten aufgebaut ist. Tansey steht mit dieser Kopf-Malerei in der documenta nicht alleine. Rob Scholte, der einen Aufzieh-Clown eine Munch-Figur zeichnen läßt, ist ihm ebenso nahe wie die Exil-Russen Komar und Melamid, die sich auf ihrer Bilderwand die Tradition vom Leib gemalt haben.

HNA 12. 9. 1987

Schreibe einen Kommentar