Den Raum neu erfahren

Orte verbinden sich mit Klängen. Manche Häuser, Straßen und Plätze würde man allein an den sie umgebenden Geräuschkulissen wiedererkennen. Künstler knüpfen an diese Erfahrungen an. Doch sie wollen nicht analysieren, sondern irritieren und bereichern, sie wollen die Räume durch Klänge erweitern und neu erlebbar machen. Auf diese Weise können musikalische Dimensionen berührt werden, doch Musik ist nur in Ausnahmefällen gemeint.

Hundert Tage lang war und ist die Seitenfassade eines Kaufhauses am Kasseler Friedrichsplatz ein solcher Erlebnisort. Viele Passanten werden wahrscheinlich gar nicht bewußt wahrgenommen haben, welch fremde Geräusche sich unter den städtischen Lärm mischen: Entlang der Wand ertönt ein reibendes, schleifendes Geräusch. Achtet man darauf, fühlt man sich vorangetrieben. Dann, wenn man in die Höhe des angeklebten Portals vom einstigen Roten Palais gelangt, glaubt man vogelähnliche Laute, Glucksen und Pfeifen, zu vernehmen.

Die Lautsprecher, aus denen diese Töne kommen, sind ebenso unaufdringlich wie der Geräuschteppich, der sich ergibt. Der Berliner Künstler Julius, der diese Klang-Installation zur documenta 8 geschaffen hat, sucht nicht die großen Auftritte, sondern die kleinen Veränderungen. Fast unmerklich wandelt sich an dieser Stelle die Klanggestalt der Stadt. Wer dies wahrnimmt, hört mehr als Geräusche.

Das vergangene documenta-Wochenende gehörte ganz den Künstlern, die sich dem Klang-Erlebnis im Raum verschrieben haben. Der letzte von sechs Performance-Blöcken stand, dem Thema der Kasseler Musiktage entsprechend, unter dem Motto „Objekt – Klang – Instrument“. Julius hatte dabei die Kirche St. Elisabeth für eine weitere Installation nutzen können – nichts fürs Auge, viel fürs Ohr: Aus zahlreichen im Kirchenraum verteilten Lautsprechern drangen sich ständig verändernde Geräusche, tippend, zirpend, schnarrend, die sich unter dem Einfall des Sonnenlichts veränderten, denn in vielen Fällen steuerten kleine Sonnenkollektoren die Anlagen.

Gegenüber dieser bescheidenen, unauffälligen Installation mit ihren geringen klanglichen Veränderungen wirkte der Performance-Beitrag von Relly Tarlo und Jacoba Bedaux im Renthof massiv. Hier passierte etwas, und hier gab es viel zu sehen: Die zwölf Pfeiler in der riesigen Halle sowie die Wände ringsum waren von Rohrsystemen umspannt – Rohre aus Metall, Plastik und Pappe umwickelten treppenartig die Pfeiler und stiegen sanft (von riesigen Röhren umgeben) die Wände hoch. Durch diese Rohre schickten Mitspieler nach den Einsätzen eines Dirigenten Metall-, Glas- und Holzkugeln sowie Tischtennisbälle.

Die Geräusche des allmählichen Runterkugelns wurden von Sensoren an zahllose Lautsprecher weitergegeben: Ein Dröhnen entsteht, es verstärkt sich, dann scheinen Glocken zu läuten, Eisenbahnwagen zu rollen, Flugzeuglärm bricht herein, ebbt ab, bis fast aus der Stille ein Klingelgeräusch sich zum Platzregen auswächst. Dumpfe, singende Töne ertönen. Und auf den Punkt ist Schluß. Aus dem Lauf der Kugeln ist eine 50minütige Komposition entstanden.

Der Zuschauer kann aber selbst zum Klanggestalter werden: Christina Kubisch hat im Untergeschoß der Neuen Galerie einen faszinierenden Erlebnisraum geschaffen (noch bis 20. September zu sehen). In dem abgedunkelten Saal lassen fluoreszierende Lampen weiße Abschnitte an Kabelverspannungen so aufleuchten, daß zwei leuchtende Pyramidenzeltdächer entstehen. Der Besucher wird mit Kopfhörern ausgestattet, die aus den Kabeln wechselnde Klänge herauspicken und ins Ohr weiterleiten. Indem man sich bewegt, dreht, tänzerisch pendelt oder den Kopf wiegt, kann man die Klänge verstärken, rhythmisieren und zu Melodien verdichten. Ein Raumbild, das die Augen fesselt und die Reaktion herausfordert.

Nicht alles war an diesem Performance-Wochenende so überzeugend. Die Klang-Ebene der bildenden Kunst aber wurde verstärkt.

HNA 15. 9. 1987

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