Am Ende ist vielleicht nicht alles vergessen, aber viel verziehen. Die 480 000, die während der vergangenen 100 Tage nach Kassel zur documenta kamen, haben mancher Kritik an dieser Ausstellung die Spitze genommen. Die Ausstellung war ein Publikumserfolg, obwohl sie kein reines Spektakel war. Mag sein, daß eine von anderen Machern inszenierte Kunstschau nicht nur andere, sondern aktuellere oder aufregendere Kunst beschert hätte. Doch als Tatsache bleibt, daß kein anderes Kunstereignis so viele Menschen zur Auseindersetzung mit der zeitgenössischen Kunst gebracht hat.
Von daher hat die documenta 8 sich durchaus in der Rolle behauptet, die ihr die Gründungsväter vor über 30 Jahren zugedacht hatten. Denn dies sollte in erster Linie keine Ausstellung für die Kenner sein (die immer nur das sehen, was sie vermissen), sondern für die Jugend, das breite Publikum.
So ist es folgerichtig, daß am letzten Tag der documenta 8 gar nicht mehr über deren Berechtigung nachgedacht, sondern der Blick zielstrebig nach vorn gerichtet wurde: Wie kann jetzt die documenta 9 (1992) vorbereitet werden? Vorrangig ist dabei die Sicherung der räumlichen Gegebenheiten. Die Orangerie muß – schon im Hinblick auf die Karlsaue als Raum für Skulpturen – ein Standort bleiben. Das war nie strittig, Verändert hat sich die Situation lediglich dadurch, daß offensichtlich die neue hessische Landesregierung bereit ist, über die völlige Freistellung der Orangerie nachzudenken. In Wiesbaden sieht man inzwischen, welche enorme Bedeutung die documenta hat.
Aber man wird die Diskussion über die räumlichen Alternativen nicht zu eng führen dürfen. Schließlich ist es denkbar, daß der nächste documenta-Leiter sehr wohl das Oktogon unter dem Herkules oder leerstehende Fabrikräume in der Stadt als Orte für neue Ausstellungsvisionen sieht. Daher ist es wichtig, daß im kleinen Expertenkreis die Suche nach der neuen documenta-Spitze schnell vorangetrieben wird.
HNA 21. 9. 1987