Ist die documenta 8 als das international herausragende Ausstellungsereignis mißglückt, auf daß man um die Zukunft dieser Weltkunstschau bangen muß? Hat sich die Idee, alle vier bzw. fünf Jahre zeitgenössische Kunst im Weltmaßstab zu präsentieren überlebt? Oder geben die rund 450 000 Besucher, die an den 100 Tagen in die Ausstellungsräume kamen, der Idee insgesamt und der diesjährigen Inszenierung recht?
Eins läßt sich mit Gewißheit sagen: Das Bedürfnis für eine solche Ausstellung ist da. Wenn schon nicht ein Hunger nach Bildern, so besteht doch ein Hunger nach Kunst-Ereignissen, die man gemeinsam mit anderen aufnehmen will. Derzeit gibt es keinen anderen Ort, an dem in so kurzer Zeit so viele Menschen zur Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunst herausgefordert werden. Hier hat die Kunst der Gegenwart ihr Mekka auf Zeit. Schon aus diesem Grund hat die documenta einen Überlebensanspruch.
Daran knüpft sich natürlich sofort die Frage, ob das, was auf dieser documenta 8 zu sehen ist, den Maßstäben genügt, die ihre Vorgängerinnen herausgebildet haben. Untersucht man diesen Aspekt, gerät man schnell an einen unauflösbaren Widerspruch: Von der documenta wird einerseits eine möglichst breite und vielfältige Übersicht über das Kunstgeschehen erwartet, auf der anderen Seite eine zielsichere, qualitätvolle (und durchaus subjektive) Auswahl, die dem einzelnen Künstler Raum zur bildlichen Argumentation gibt. Beides ist schwer vereinbar; und Manfred Schneckenburger, der 1977 bei seiner Medien-documenta auf den breiten Überblick zielte (Malerei, Skulptur, Zeichnungen, Bücher, Foto, Video), erntete dafür heftige Kritik.
Nun entschied er sich dieses Mal für die Auswahl und erhielt noch lautere Schelte. Vorwürfe jedoch, die Künstlerliste sei zu beliebig und konturlos zusammengestellt worden, gehen völlig an der Ausstellung vorbei. Wenn man der documenta 7 von Rudi Fuchs zugesteht, sie habe eine klare Position bezogen (die der Malerei), dann muß man das ebenso für die documenta 8 gelten lassen. Selbstverständlich haben wir viel vermißt – die Malerei, vielleicht auch die Zeichnungen oder ganze Künstlergruppen. Aber was wäre das für eine Schau, in der 1000 Kritiker niemanden vermissen würden? Wer bei einer internationalen Schau den Blick auf rund 150 Künstler begrenzt (allein in einer Stadt wie Düsseldorf leben über 2000), der geht natürlich erhöhte Risiken ein.
Das größte Wagnis dieser Ausstellung war, sich auf die beiden Seiten der Kunst einzulassen – die reine Kunst (Malerei/Skulptur) und die Gebrauchskunst (Design), wobei sich der Witz ergab, daß oftmals die reine Kunst funktionalere Dinge hervorbrachte als das Design. Diese Gegenüberstellung weckte Erwartungen, sie war auch fällig und enttäuschte dennoch. Vielleicht waren es sogar notwendige Enttäuschungen.
Über die Fehlleistungen dieser documenta ist auch an dieser Stelle wiederholt gesprochen worden. Doch es ist nicht wahr, die Ausstellung habe bloß große zeitgemäße (postmoderne), aber inhaltsleere Inszenierungen begünstigt: Die Bilder von Mark Tansey und Rob Scholte können zur intensiven Diskussion über die Malerei einladen, mit Penone kann man sich auf eine Reise zu den Mythen begeben, Wolfgang Laib und Gloria Friedmann führen zu den Wurzeln der Existenz, und in den Räumen von Beuys, Kiefer, Lang und Morris wird der Bogen von der Vorgeschichte zur Endzeit geschlagen.
Das intensive Führungsprogramm half, daß diese Bildbotschaften ankamen. Die d 8 hat Bilder und Räume beschert, die bleiben: Die Video-Skulpturen zählen dazu, die Serra-Installationen, Rückriems Museum für einen Stein, Kawamatas Holzspirale in der Garnisonskirche und viele andere mehr. Nicht zu vergessen die zahllosen, sich ständig verändernden Bilder, die die Performance-Künstler produzierten. Auch in dieser Beziehung präsentierte die documenta zwei Seiten der Kunst – die statische Ausstellung und den avantgardistischen Aktionsteil. Kaum zuvor war eine documenta über ihre gesamte Dauer hinweg ein solches Ereignisfeld.
Am Ende fällt der Abschied schwer. Es gab überspannte Erwartungen, es gab Versäumnisse und Fehlleistungen. Aber entgleist ist diese documenta nicht. Sie verkündete nicht ihr eigenes Ende und produzierte in ihren enttäuschenden Teilen höchstens Erwartungen an die documenta 9, die 1992 stattfinden soll.
Aber auch dieser Ausblick ist nicht ungetrübt: Wie steht es dann um die Räume? Das Museum Fridericianum als Hauptstandort ist gesichert. Das Oktogon unter dem Herkules, von dem schon Arnold Bode träumte, könnte zwar als Spielort für Installationen hinzugewonnen werden, kommt aber als festes Standbein nur begrenzt in Frage. Bleibt also auch die Orangerie erhalten? Immerhin scheint die neue Landesregierung in Wiesbaden, die der documenta den Vorrang einräumt, das prüfen zu wollen.
HNA 19. 9. 1987