Die neuen Bilder

Die documenta 8 in Kassel ist als ein vielschichtiges Unternehmen angelegt, bei dem die starre Ausstellung nur ein Teil sein soll. Zum zweiten Mal wollte die documenta (nach 1977) jene Kunst einbeziehen, die zwischen den traditionellen Künsten ihren Platz sucht, die sich nicht fertig und leicht verkäuflich anbietet, sondern sich in der Zeit ereignet und die unter dem Begriff Performance (Aufführung, geplante Aktion) im Kunstbetrieb zu einer festen, doch weitgehend heimatlosen Ausdrucksform geworden ist.

Die Kölner Performance-Expertin Elisabeth Jappe hat für die documenta 8 ein mit 48 Künstlern und Gruppen besetztes internationales Programm zusammengestellt, das Format hat. Die Gliederung des Angebots in sechs thematische Blöcke ist vielversprechend.

Dennoch konnte der gute Vorsatz, die Performance als gleichberechtigte Kunstform in die Ausstellung einzubinden, nicht verwirklicht werden. Nicht nur, daß das Aktionsprogramm weitgehend an Orte abseits der Ausstellung verbannt ist; auch kommen die Performance-Künstler im Katalog (Band 2) schlechter weg als die Maler, Bildhauer, Designer und Architekten, denen jeweils eine Doppelseite eingeräumt wird, während die Performance-Künstler sich zu dritt oder viert eine Seite teilen müssen. So ist es kein Wunder, daß selbst Kritiker das Performance-Angebot als das Unterhaltungsprogramm der documenta empfinden.

Dabei ist dieses Aktionsfeld der Bereich der Kunst, in dem zur Zeit das meiste passiert, in dem wirkliche Entdeckungen gemacht, in dem die neuen Bilder gefunden werden, nach denen die anderen häufig vergeblich suchen. In der Aktion setzen sich Ängste, Träume und Hoffnungen frei, werden Erinnerungen und Gefühle wach gerüttelt, wird der Sinn für Zeit und Vergänglichkeit geschärft, wer- den Körper, Sprache und Klang neu erfahren, erhalten die Bilder eine neue sinnliche, persönliche Kraft.

Die documenta 8 hat sich vorgenommen, die Kunst zu zeigen, die sich mit der Gesellschaft, mit
den Visionen von Gewalt und Hoffnung auseinandersetzt. Aber an keiner Stelle der Ausstellung stößt man auf so eindringliche Bilder von Weihe, Verfolgung, Unterdrückung, Folterung und Tod, wie sie die Societa Raffaello Sanzio in ihrem Bilderbogen „Die Elenden“ im tif produzierte. Diese Flut von traumatischen Bildern, jedes für sich voller Kraft und Spannung, kann nur eine Kunst hervorbringen, die sich der Mittel des Theaters bedient, ohne erzählendes Theater zu werden.

Nach dem Eröffnungsfestival stand jetzt die „Expanded Performance“ auf dem Programm. Gemeint ist damit jene Aktionskunst, die sich ausweitet – möglicherweise über Tage erstreckt, den Raum erkundet oder das Publikum mit einbezieht. Der Besucher, der die unterschiedlichen Ausdrucksformen studieren will, sieht sich Wechselbädern ausgesetzt.

Hier das Kurzprotokoll eines Performance-Tages in Kassel:

Im Acht-Säulen-Tempel hinter der Neuen Galerie formt Toine Horvers eine Klangskulptur: Der Geräuschpegel soll auf ein beständiges Klangniveau gebracht werden; das heißt, daß der sich ständig verändernde Verkehrslärm durch monotone Geräusche von Besuchern im Tempel ausgeglichen werden muß. Nur die Teilnehmer erleben den erzeugten Gleichklang.

Hinter dem Marmorbad ein Auto als rollende Camera obscura. Florian Kleinefenn und Fritz Rahmann lassen die Besucher in einem verdunkelten Auto erfahren, wie sich Landschaft selbst abzubilden vermag.

In der Neuen Galerie führt Lili Fischer ihre „Waschlappendemo“ vor. Auf heitere und sinnlich anschauliche Weise wird hier nicht nur ein Stück Alltagsgeschichte aufgearbeitet, sondern die Künstlerin macht auch in ihrem schmutzspritzenden Klärschlamm-Charleston deutlich, welchen Dreck der Reinheitstrieb produziert.

Albtraum-Bilder überschütten den Betrachter der Performence der Societa Raffaello Sanzio. Hier wird die ganze Not und Angst der Menschen, die Last der Vergangenheit, sichtbar.

Im Bistro New York werfen jeweils gleichzeitig acht Projektoren acht Bilder aus acht Städten an die Wand. Eine Reise in den Andenkenkult unserer Zeit des Performance-Projekts „City Souvenir“.

Mit Fackeln umtanzen Menschen den mit Girlanden schmückten Riesenteddy von Charlemagne Palestine.

„Profanes haben wir genug. Wir wollen Sakrales entwickeln,“ sagt Boris Nieslony. Tatsächlich gibt uns die Performance das zurück, was wir im Alltag vermissen – die verdrängte heilige Handlung. Der Ritus ermölicht Erfahrung und Erkenntnis.

HNA 30. 6. 1987

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