Der amerikanische Bildhauer Richard Serra ließ neben dem Kasseler Rathaus eine gewaltige Stahlskulptur in Form eines H aufstellen. Dort, wo sonst die Wilhelmstraße als Fußgängerzone durch Schilder, Sperren, Telefonhäuschen und parkende Autos abgeschnitten wird und in eine Sackgasse übergeht, setzte Serra seine H-Skulptur als ein Raumzeichen hin, das den Straßenbruch brutal verdeutlicht. Auf einmal vermißt man den Blick auf die Karlskirche.
Die Stahlskulptur, die aus fünf Platten besteht, die je zehn Meter lang und vier Meter hoch sind, nimmt gleichzeitig das Gefälle der Wilhelmstraße auf und neigt sich zu der Kirche hin. Andererseits brechen sich an ihren Wänden die verschiedenen Straßeniveaus, die sich an dieser Kreuzung mit Königsstraße ergeben. Street levels, Straßen-Ebenen, heißt diese Arbeit.
Die Fußgänger, die diesen Straßenabschnitt passieren wollen, werden in enge Gänge zwischen Hauswänden und Stahlplatten gezwungen. Andererseits sind innerhalb der Skulptur, auf jeder Seite der Querachse, zwei platzartige Räume entstanden.
Richard Serra ist zum vierten Mal an der documenta beteiligt, zum ersten Mal aber hat er mit einer Arbeit so zielgenau auf eine städtische Situation reagiert. Zusammen mit seiner im Museum Fridericianum aufgestellten, ganz auf den Raum und seine verlorene Struktur bezogenen Spiralwand ist dies der beste und zwingendste Beitrag, den Serra für Kassel schuf.
Das Faszinierende an diesem Eingriff in die Stadt ist, daß er von einem Teil der Anwohner sehr schnell verstanden wurde. Sie merken, welche Plätze hier zurückgewonnen werden können, und
fordern die baldige Verlängerung der Fußgängerzone. Die Bürger haben den Künstler verstanden, auch wenn sie vielleicht die Form der Reaktion nicht nachvollziehen können.
Ein Punkt, an dem die documenta 8 die geweckten Erwartungen erfüllte. Die Erinnerungen an die documenta 6 und die Verheißungen von Manfred Schneckenburger, im Bereich der Außenskulptur werde die Kunst ihre soziale Dimension wiederentdecken und den Bezug zur Stadtgestalt suchen, hatten dazu geführt, daß auf diesem Gebiet besondere Leistungen der documenta erhofft wurden. Diese Erwartungen waren sicherlich überzogen.
Zur nachhaltigen Enttäuschung trugen insbesondere zwei Künstler bei, die zehn Jahre zuvor zur documenta 6 Zeichen gesetzt hatten: Georg Trakas, der dem runden Königsplatz mit seiner verwirrenden kleinteiligen Architektur Piazza-Gestalt geben wollte, scheiterte. Sein ursprünglicher Plan mußte aus baurechtlichen und finanziellen Gründen aufgegeben werden. Aber auch die kleinere Version mit ihren zwei Brücken über die Straßenbahn, mit den drei Plattformen, der Baumsäule und dem Steg blieb aus ähnlichen Motiven ein Torso. Die Besucher genießen zwar den von Trakas versprochenen befreienden Blick, sie müssen aber auch erkennen, daß sich diese Kosmetik gegenüber dem Platz nicht durchsetzen konnte.
Auch Dani Karavans Beitrag zur Umgestaltung des Rathausvorplatzes und der Königsstraße blieb weit hinter den Erwartungen zurück, weil die an sich sehr schöne Projektion, in der Ist-Zustand und Vision verknüpft werden, als eine museale Arbeit im Rathaus-Foyer zu sehen ist.
Doch nicht nur Serras Arbeit kann als gelungen angesehen werden: Scott Burton schuf mit seiner Ottomane (eine Bambus-Insel mit einer Sitzbank als Einfassung) eine wahrhaft soziale Plastik und verhalf so der Karlswiese zu einem Mittelpunkt. Immer wieder faszinierend sind auch die vier Guillotinen, die Ian Hamilton Finlay auf die zum Tempel auf der Schwaneninsel führende Achse stellen ließ, um so die Schönheit mit dem Schrecken zusammenzubringen. Und schließlich hat der Japaner Tadashi Kawamata mit seiner fließenden Holzspirale der Ruine der Garnisonkirche nicht nur zu einer neuen Gestalt verholfen, sondern er hat ihr verborgenes Inneres auch erschlossen.
Die Versuche hingegen, neue Wege im Dialog von Architektur, Design und Skulptur zu gehen, können nicht überzeugen. Stefan Wewerkas Glaspavillon und Thomas Schüttes Eis-Kiosk
(in Anlehnung an die französische Revolutionsarchitektur) bleiben Zwitter, die wohl eine Messe beleben, aber eine documenta nicht bereichern können.
Zum Außenteil der Ausstellung gehören aber auch ganz poetische Arbeiten – wie Heinrich Brummacks Zeltskulpturen mit ihren Marmor- und Holzsäulen, wie Klaus Kumrows auf dem Wasser schwimmendes rätselhaftes Objekt oder wie Wolfgang Luys völlig in die Natur eingebundene schöne, halbverfallene Architekturvision.
Die Außenskulptur triumphiert nicht, sie behauptet sich. Bestes Beispiel dafür ist auch Ulrich Rückriems Beitrag – eine seiner besten Arbeiten überhaupt: Auf einen Parkplatz an der Frankfurter Straße setzte er einen grauen Betonraum, in dem sich, wie im Museum, urtümlich und majestätisch ein Granitblock (gespalten und geschnitten) erhebt. Durch den Eingang erblickt man das Bild einer weiteren Granitwand; es gehört zu einem Block, der den Zugang bewacht und den Dialog durch die Tür eröffnet.
HNA 8. 7. 1987