Stille und Wirbel

Eine schier endlose Industriehalle. Die Arbeiter und Maschinen sind seit langem ausgezogen. Jetzt entfaltet sie die Pracht einer Kathedrale. Vor allem das Deckengewölbe und die hölzerne Galerie an der einen Seitenwand verdrängen die Erinnerungen an den industriellen Zweckbau.

Die Wiederentdeckung dieser großartigen Halle in der Salzmannfabrik zählt zu zentralen Leistungen des documenta-Beiprogramms, das jetzt in die zweite Runde gegangen ist. Dieser Raum ist ein Ereignisfeld, wie es keine Bühne schaffen kann. Er hebt die Trennung zwischen Akteuren und Publikum auf und bietet damit genau den richtigen Rahmen für neue Spiel- und Aktionsformen.
Der Performance-Künstier Boris Nieslony, das Ohne-Mich-Theater und das Studio am Montag hatten zur „Begegnung I“ eingeladen, zu einer meditativen und spielerischen Einübung auf eine gemeinsame Theaterarbeit. Es war ein Abend der Andeutungen, der Gesten und der Versuche, die Möglichkeiten zu erkunden. Die Akteure verloren sich in der Weite des Raums, in der Stille, sie erstarrten zu Bildern, jeder seinem eigenen Zeitmaß folgend. Gelegentlich rannte einer los, durchbrach das Schweigen und lief in die Weite.

Das waren Studien von Menschen, Situationen und Ritualen, Studien für das Theater. Und je weiter der Abend fortschritt, desto häufiger ergaben sich Zusammenspiele. Morgen, wenn „Gruppen mit Soli“ angeboten wird, hat die Koproduktion eine weitere Stufe erreicht.

Den aus der Stille geholten Bildern stand am selben Abend ein Non-Stop-Wirbel der Amerikanerin Pat Oleszko im tif gegenüber: Die schnelle Folge von immer wieder heiteren Filmen, Projektionen und Live-Auftritten machte mit einer Künstlerin bekannt, die sich durch Bemalungen und phantastische Verkleidungen in eine die Stile und die Zeiten überspringende, lebende Skulptur verwandelt. Ihre großartigen Kostüme sind Plastiken, die an die faszinierenden Entwürfe der 20er Jahre anknüpfen. Aber genauso bilderreich kann Pat Oleska sein, wenn sie in einem „farblosen“ Kostüm vor einer Leinwand leicht schwingend tanzt und farbkräftige, schnell wechselnde Filmbilder auf sich projezieren läßt.

Hier werden die Bilder lebendig, fangen Projektionen von Tomaten und Gesichtern zu tanzen an. Die plastische Kunst wird aus ihrer Erstarrung gelöst und ins Leben geholt.

Eher der reinen Unterhaltung dienen die Auftritte und Filme, in denen sie Körperpartien menschliche Gesichter gibt: Bemalte Knie laufen als verliebtes Paar durch New York, zwei Finger werden zu Beinen, die Körper und Landschaften erforschen, und Gesichter auf Brust, Unterleib und Po verwandeln sich in heftig deklamierende Sänger.

HNA 6. 7. 1987

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