Halbzeit

Besser hätte es für die Veranstalter nicht kommen können: Genau zur Halbzeit der Kasseler documenta 8 stellte sich der 200 000. Besucher ein. Damit spricht viel dafür, daß die documenta dieses Sommers an die magische 400 000-Marke herankommt und so einen neuen Bseucherrekord aufstellt.

Ist die documenta 8 also ein Erfolg? Ja und nein. Den Triumph feiert erst einmal die documenta-Idee. Die Ausstellung ist zum Mythos geworden, zum Ereignis, an dem derjenige nicht vorbeigehen kann, der über den Zustand der zeitgenössischen Kunst Bescheid wissen will. Der Kassel-Trip ist zum gesellschaftlichen Muß geworden. Wer nicht hier war, ist auch sonst nicht voll dabei. Davon profitiert die laufende Schau.

Diese Verklärung der im Fünf-Jahres-Rhythmus veranstalteten Ausstellung führt aber auch zu überzogenen Erwartungen an sie. Kein Wunder, daß es dann lauter enttäuschte Reaktionen gibt. Nimmt man das Presse-Echo zum Maßstab, dann blieb bisher der uneingeschränkte Beifall aus. Es überwogen die abwartend-verhaltenen Kritiken, durchmischt mit einigen saftigen Abrechnungen. Eines der härtesten Urteile findet sich im gerade erschienenen Heft 8 des Kunstmagazins „art, in dem Alfred Nemeczek nach seinem documenta-Rundgang die Berufung Manfred Schneckenburgers
zum künstlerischen Leiter eine „Fehlentscheidung“ nennt.

Ist die documenta wirklich zum Ereignis, zum bloßen Rummel verkommen, und ist sie als Kunstausstellung ein Mißerfolg? Sicherlich nicht. Selbst „art“ rät seinen Lesern, „unbedingt“ nach Kassel zu fahren, denn ein professioneller Beobachter leide mehr unter den vergebenen Chancen des Konzepts als ein Besucher, der Anregungen suche. Diese Zerrissenheit kennzeichnet – übrigens mehrere Kritiken: Der Absage an Schneckenburgers Konzept steht die Faszination gegenüber, die aus der Beschreibung (oder Abbildung) einzelner Ausstellungsteile spricht.

Gewiß haben Schneckenburgers Ankündigungen, die documenta 8 werde die Rückkehr der Kunst zu den Themen mit sozialer und historischer Dimension belegen, zu hohe Erwartungen produziert. Andererseits kann man den Vorwurf, dies sei eine Ausstellung der Beliebigkeit, nicht gelten lassen. Es ist doch gerade der ausschnitthafte und subjektive Blick auf die Kunstszene, der die Gemüter erregt. So ist eben auch die Kunst unserer Tage.

HNA 1. 8. 1987

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